Heftige Kritik aus Deutschland: «Bundesrat riskiert, dass Infektionen bald durch die Decke gehen»

Der deutsche Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon-Hochschule in Berlin staunt über die Schweiz. «Das Gegenteil wäre jetzt richtig», sagt er auf Anfrage. Die Schweiz müsste nochmals wie Frankreich strenge Massnahmen ergreifen, wenn nötig auch Ausgangssperren einführen. «Lockerungen können wir uns nicht leisten, solange wir nicht mit den Impfungen nachkommen», sagt er. Es sei nicht der Moment für Experimente, und die Situation sei auch nicht vergleichbar mit letztem Frühling.

«Die Schweiz riskiert, dass die Infektionszahlen bald durch die Decke gehen.»

In dieser dritten Welle unterscheiden sich die Einschränkungen Deutschlands und der Schweiz so stark wie noch nie. Schon bisher fuhr die deutsche Kanzlerin Angela Merkel einen deutlich schärferen Kurs als der Schweizer Bundesrat – ohne dass die epidemiologische Lage deswegen in Deutschland besser wäre.

Auch deutsche Medien kritisieren den Schweizer Entscheid

Die deutsche Regierung will daher ein «Notbremse-Gesetz», das einen landesweiten Lockdown ab einer Inzidenz von 100 vorsieht. Es werden sogar polizeilich überwachte Ausgangssperren in Betracht gezogen. Neben dem Epidemiologen reagierten auch deutsche Medien überrascht auf die Medienkonferenz des Bundesrats.

Da die Lage der Schweiz mit einer Inzidenz von fast 300 nicht besonders gut sei – die Schweiz und die EU legten einst den Wert 60 als Alarmwert fest – seien die Lockerungen des Bundesrats unerwartet und früh, schreibt etwa die deutsche ARD. Denn im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten und anderen EU-Ländern stehe die Schweiz nicht besonders oder sogar noch schlechter da. Und während sich das Impftempo in Deutschland in den letzten Tagen mithilfe der Hausärzte leicht verbesserte, habe es sich in der Schweiz sogar verlangsamt.

Auch die «Süddeutsche Zeitung» beäugt den Entscheid kritisch und schreibt, dass der Bundesrat wohl kaum einer epidemiologischen Strategie folgt, sondern eher den tagelangen Forderungen der Wirtschaftsverbände nachgab und seiner mittlerweile coronamüden Bevölkerung mit den Lockerungen ein Zückerchen geben wollte.

Einen ähnlichen Tenor schlägt auch der «Spiegel» an und schreibt, dass die Schweiz lockern würde, obwohl die Zahlen wieder ansteigen. Hätten der Bundesrat und das BAG einst klar definierte Richtwerte für Lockerungen festgelegt, folge der Bundesrat dieser Strategie nun doch nicht mehr und öffne das Land, obwohl aktuell nur der Richtwert erfüllt sei, der immer erst mit einigen Wochen Verspätung wieder ansteige: Die Zahl der Intensivpatienten mit Covid-19 in den Spitälern.