
Ich bin ein Chaot
Kein 1.-Mai-Boulevard-Chaot, sondern ein Ganzjahreschaot. Ich habe Unordnung ohne Grund, ohne politische Ziele. Mein Lebensmotto heisst: Ordnung ist das halbe Leben, die andere Hälfte ist das Chaos. Ich mag es, das Chaos. Je chaotischer mein Zimmer, desto aufgeräumter bin ich. Schwachsinn. Auch mein Chaos braucht Ordnung, es braucht einen Korridor zum Fenster und einen Korridor zum Bett. Daneben stapeln sich Zeitungen der letzten Jahre und Socken der letzten Tage. Für das Pult braucht es keinen Korridor. Das ist sowieso nicht benutzbar. Zu viel Papierkram: Rechnungen, amtliche Dokumente, Schulmaterial. Der Stuhl vor dem Pult ist leider auch zweckentfremdet. Da hängen Kleider. Wenn ich zuhause arbeite, dann mach ich das im Bett. Nur selten befinden sich auch dort Kleider. Und wenn, dann verlege ich sie auf den Bürostuhl. Das Chaos behindert mich nicht. Allein als ich vor Jahren mal an der Krücke ging und auf einem Zeitungs-Exemplar ausrutschte, wurde es gefährlich. Finde ich ein Dokument oder ein Kleidungsstück nicht, ist das eine gewünschte Herausforderung für mich – vergleichbar mit Sudoku.
Die meisten Menschen, die mein Zimmer betreten, kommen mit einem höhnischen Lachen wieder heraus. Chaoten stossen in unserer geordneten Gesellschaft auf wenig Verständnis – nicht nur die 1.-Mai-Boulevard-Chaoten. Würde der Blick jemals eine Homestory mit mir machen, hiesse die Schlagzeile: «Chaoten verwüsten sein Zimmer! War es der schwarze Block???» Doch weit gefehlt, da liegen höchstens Schreibblöcke zwischen den Zeitungsartikeln und den Socken. Vielleicht ist es meine persönliche Rebellion gegen die Gesellschaft. Passiver Widerstand gegen das menschliche Bedürfnis, alles einordnen zu müssen. Vielleicht bin ich aber einfach nur faul. Oder vielleicht stapeln sich die Zeitungen, weil ich weiss, wie viel Arbeit in Artikeln steckt. Fast drei Stunden lang habe ich jetzt diese Wörter geordnet – ich glaube, das spricht für sich.
Bsetzistei ist die wöchentliche Kolumne der Redaktorinnen und Redaktoren des Zofinger Tagblatts und der Luzerner Nachrichten.