
«Ich finde das gemein»: Das Frauenrentenalter soll bald auf 65 steigen – das sagen betroffene Frauen dazu
Grosse AHV-Debatte: Darum geht es
Am kommenden Montag ist wieder Frauenstreik. Für die Gewerkschaften ein Steilpass um gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters zu protestieren. Führende Gewerkschafterinnen und linke Sozialpolitikerinnen schlugen am Montag drastische Töne an. Eine Erhöhung des Frauenrentenalters durch das Parlament sei «respektlos, unwürdig und zynisch!»
Die schrillen Töne erstaunen nicht. Heute Mittwoch findet im Nationalrat die grosse AHV-Debatte statt. Und die Angleichung des Frauenrentenalters ist das letzte grosse sozialpolitische Pfand der Linken – das wollen sie nicht einfach aus der Hand geben.
Dennoch wird der Nationalrat heute die Angleichung beschliessen, wie bereits der Ständerat. Denn dem wichtigsten Sozialwerk der Schweiz geht das Geld aus. Ohne Reformen wird der AHV-Fonds 2033 oder 2034 leer sein. Das Bundesamt für Sozialversicherungen erwartet, dass das Umlageergebnis – also die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben – bereits 2025 bei minus 1,3 Milliarden Franken liegen wird. Der Grund sind die grossen Jahrgänge, die in Pension gehen. Der Bundesrat will das Defizit mit einer schlanken Reform beheben. Wichtigstes Element ist die Erhöhung des Frauenrentenalters und der Mehrwertsteuer.
Das Rentenalter wird in drei Schritten erhöht. Tritt die Reform 2024 in Kraft, müssten Frauen mit Jahrgang 60 drei Monate länger arbeiten. Rentenalter 65 würde ab 2027 gelten.
Streitfrage um die Entschädigung: Diese Modelle werden diskutiert
Die grosse Streitfrage ist: Wie sollen Frauen entschädigt werden, die länger arbeiten müssen? Und wie viele Jahrgänge sollen in den Genuss dieser Kompensation kommen? Dazu stehen heute im Nationalrat verschiedene Modelle zur Diskussion. Die Debatte wird sich darum drehen, wie viel Kompensationsmassnahmen nötig sind, damit die Erhöhung in einer Volksabstimmung durchkommt. Denn das Referendum von links ist so gut wie sicher. Diese Modelle werden diskutiert:
- Der Bundesrat will zur Abfederung 700 Millionen Franken einsetzen. Neun Jahrgänge (1960 – 1969) sollen profitieren. Entweder indem Frauen die Rente weniger stark gekürzt wird, wenn sie nicht bis 65 Jahre arbeiten. Oder indem sie eine höhere Rente erhalten, sofern sie ein tieferes Einkommen als 85 320 Franken haben.
- Der Ständerat zeigte sich sparsamer: Er will nur 420 Millionen Franken aufwenden. Die Übergangsgeneration von neun Jahrgängen soll einen abgestuften Rentenzuschuss von maximal 150 Franken pro Monat erhalten. Will heissen, wer wegen der Erhöhung des Rentenalters drei oder sechs oder neun Monate länger arbeiten muss, bekommt weniger als eine Frau, die ein ganzes Jahr später in Rente gehen kann. Später sinkt der Rentenzuschlag wieder.
- Die Linke fand die Variante des Ständerates zu knausrig. Deshalb besserte die vorberatende Kommission des Nationalrates nach. Es soll gezielt die Situation von Frauen mit tiefen Einkommen verbessert werden. Der Rentenzuschlag ist deshalb abhängig vom früheren Einkommen. Bis zu einem Einkommen von 57360 Franken erhalten die Frauen 150 Franken pro Monat, bis 71700 beträgt der Zuschlag 100 Franken und für alle anderen 50 Franken. Profitieren sollen allerdings nur sechs Jahrgänge der Übergangsgeneration. Kostenpunkt: 670 Millionen Franken.
- Für die Linke ist das zu wenig. Sie stellt drei weitere Varianten zur Disposition. Einerseits das Modell der vorberatenden Kommission aber für eine Übergangsgeneration von neun Jahren. Andererseits mit Rentenzuschlägen von 430 bis 515 Franken pro Monat.
- Die GLP wiederum will eine Brücke schlagen mit einem Kompromissvorschlag. Die Übergangsgeneration soll acht Jahrgänge umfassen.
Welches Modell sich durchsetzt, hängt vor allem von den Parteien im Zentrum ab, der GLP und der Mitte-Partei.
So reagieren fünf betroffene Frauen
«Ich finde das gemein»: Verena Meier, Pflegerin aus Brugg/AG
Jahrgang 1961

Verena Meier.
Ich realisiere gerade, dass ich nach dieser Reform auch länger arbeiten müsste. Ganz ehrlich: So kurz vor der Pensionierung finde ich das gemein. Ich habe mich darauf eingestellt, dass es noch vier Jahre dauert. Nun könnte es ein halbes Jahr mehr werden. Ich arbeite beim Haushilfedienst der Pro Senectute, und ich werde wertgeschätzt. Früher war ich in einem Altersheim als Pflegerin, dort wurde mir gekündigt. Das zeigt für mich das Problem: Bis 65 arbeiten ist schön und gut, aber viele werden ja schon vorher nicht mehr gebraucht.
Das gilt vielleicht nicht für die Chefs und die Studierten. Aber in den Niedriglohnbranchen wird gespart, und wenn man kann, stellt man Junge ein. Die Reform ist ungerecht für die Frauen, die sich für ihre Familien und im Job abgerackert haben. Meinetwegen kann man das Rentenalter erhöhen, – aber man sollte es nach Branche festlegen und jene, die körperlich hart arbeiten müssen, anders behandeln als die, die am Schreibtisch sitzen und nicht aufhören wollen.
«Nicht länger arbeiten, sondern weniger lang»: Andrea Mira Meneghin, Sozialarbeiterin aus Bettingen/BS
Jahrgang 1967

Andrea Mira Meneghin
Natürlich ist es für uns Frauen blöd, dass wir ein Jahr länger auf die AHV warten müssen. Ich persönlich gehöre aber nicht zu denen, die es kaum erwarten können, dass es endlich vorbei ist mit dem Arbeiten. Das liegt auch daran, dass mein Berufsleben erst jetzt richtig beginnt. Ich habe immer viel gearbeitet, aber nicht in der Arbeitswelt-, sondern in der Familienwelt, und sechs Kinder grossgezogen. Nun beginnt eine neue Lebensphase als Sozialarbeiterin, und darauf freue ich mich, wobei es sehr schwierig war, den Einstieg zu finden.
Losgelöst von meiner Situation finde ich, dass wir nicht darüber reden sollten, länger zu arbeiten. Sondern weniger lang. Das gilt auch für die Männer. Die heutige Arbeitswelt zehrt die Leute aus, viele sind mit 60 völlig kaputt, und sie sind bei den Firmen auch nicht mehr gefragt. Und der Trend geht trotzdem dahin, dass alle länger arbeiten sollen. Das macht doch keinen Sinn. Ich finde, wir müssen schauen, dass die Arbeitsbedingungen besser sind und die Leute gerne arbeiten.
«Für die Vereinbarkeit muss mehr passieren»: Regina Hiller, Schulpräsidentin und Beraterin aus Arbon/TG
Jahrgang 1962

Regina Hiller
Ich kann sagen, dass ich wirklich gerne arbeite. Das ist ein Privileg, denn es bedeutet, dass ich mich auf meine letzten Jahre im Job freuen kann – und auch auf alles, was danach kommt. Ich habe schon jetzt Ideen, wie ich meine nachberufliche Zeit gestalten möchte: ein paar kleine Mandate, sehr viel mehr Freizeit. Grundsätzlich kann ich mit dem Plan der Politik leben. Ein paar Monate mehr oder weniger, das ist auf ein ganzes Berufsleben ja nicht so viel. Wobei ich natürlich weiss, dass ich leicht reden habe, weil mir die Arbeit Freude macht.
Wenn ich von meiner individuellen Perspektive auf die gesellschaftliche wechsle, dann muss ich als Frau sagen, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben. Als Mutter zweier erwachsener Kinder habe auch ich die frauentypische Lücke in der Pensionskasse. Mein Ja zum Rentenalter 65 knüpfe ich an die Erwartung, dass für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mehr gemacht wird. Das reicht von Teilzeitarbeit für Frau und Mann über hochwertige Kinderbetreuung bis zur Lohngleichheit.
«Die Firmen wollen lieber Junge»: Daniela Burkart, Buchhalterin aus Wohlen/AG
Jahrgang 1970

Daniela Burkart
Für mich ist es klar, dass ich das höhere Rentenalter für Frauen ablehnen werde. Ich bin Buchhalterin, arbeite bei einem KMU. Als unser Kind zur Welt kam, habe ich zwei Jahre ausgesetzt, sonst habe ich immer Teilzeit gearbeitet. In meiner Pensionskasse liegt viel weniger Geld als in jener meines Manns. Da müsste man schon lange etwas machen für jene, die Teilzeit arbeiten, und das sind immer noch meistens die Frauen. Es geht mir aber gar nicht um die Frage Mann oder Frau. Es geht mir auch nicht darum, dass ich zu den Jahrgängen gehöre, die als erste ohne Kompensation länger arbeiten müssen.
Es zielt für mich schlicht an der Realität vorbei, das Rentenalter zu erhöhen. Wer über 50 Jahre alt ist, hat es heute doch sehr schwer auf dem Arbeitsmarkt. Die Firmen wollen lieber Junge. Deshalb sollte das Rentenalter für alle runter, auf 60 Jahre. Finanzieren könnte man das mit einkommensabhängigen AHV-Beiträgen: Wer mehr Geld hat, zahlt auch einen höheren Prozentsatz ein, ein wenig wie bei der Steuerprogression.
«Es bräuchte eine viel breitere Sicht»: Sibylle Hurschler, PH-Dozentin aus Luzern
Jahrgang 1965

Sybille Hurschler
Als Kantonsangestellte muss ich sowieso bis 65 arbeiten, wegen meiner Pensionskasse. Persönlich bin ich also nicht unmittelbar betroffen von der Reform, und selbst wenn es so wäre: Mein Job bereitet mir viel Freude, ein Jahr länger zu arbeiten, wäre für mich kein Weltuntergang. Aber es geht bei dieser Reform um alle Frauen. Und da bräuchte es eine viel breitere Sicht.
Man macht jetzt eine kleine Reform, damit die AHV wieder ein wenig besser dasteht. Dabei gäbe es viel mehr zu tun. Als ich vor über 20 Jahren Mutter wurde, mussten wir vom Land in die Stadt ziehen, weil es nur dort Betreuungsmöglichkeiten gab. Das ist heute zum Glück besser. Aber bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben wir immer noch viel Nachholbedarf. Zum Beispiel darf es in der Pensionskasse keine Lücke mehr geben, wenn jemand Familienarbeit leistet. Auch bin ich gegen ein starres Rentenalter – und dafür, dass die Lebensarbeitszeit massgebend ist und berücksichtigt wird, ob jemand schwere körperliche Arbeit geleistet hat.