«Ich würde eine Coronademo bewilligen»: Renate Gautschy tritt als Gemeindeammänner-Präsidentin ab

«Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 08.00 – 12.00 Uhr» steht beim Eingang zum Gemeindehaus Gontenschwil. Mit den Verschärfungen der Coronavorschriften am 18. Januar wurden die Schalterzeiten eingeschränkt. Renate Gautschy empfängt die AZ dennoch am Samstag zum Interview. Am Donnerstagabend hat sie nach elf Jahren an der Spitze der Gemeindeammänner-Vereinigung das Präsidium an Patrick Gosteli weitergegeben. «Das war eine sehr intensive Zeit, oft mit Terminen und politischer Arbeit am Wochenende. Aber immer, wenn ich wieder nach Gontenschwil zurückkam, fühlte ich mich zu Hause, das Dorf gibt mir Halt, es ist meine Heimat», sagt Gautschy.

Gleich zu Beginn: Wie sollen wir Sie bezeichnen? Frau Gemeindeammann? Oder wäre Ihnen doch Gemeindepräsidentin lieber?

Renate Gautschy: Frau Gemeindeammann passt sehr gut für mich, aber ich verstehe auch alle Frauen, die lieber als Gemeindepräsidentin angesprochen werden möchten. Im Kanton Zürich ist der Gemeindeammann der Betreibungsbeamte, und auch in anderen Kantonen gab es manchmal Fragezeichen, wenn ich die Ansprache bei einer Bundesfeier hielt und als Gemeindeammann auf dem Programm stand.

Derzeit wird zum Beispiel in Baden diskutiert, ob man aus dem Stadtammann einen Stadtpräsidenten machen sollte – wie sehen Sie das?

Im Aargau sind beide Bezeichnungen gesetzlich möglich und ich finde, das soll die jeweilige Gemeinde entscheiden. Im Alltag gibt es aus meiner Sicht als Frau Gemeindeammann keine grossen Probleme. Ich erinnere mich nur an eine Episode, die aber eher lustig als gravierend war. Ich hatte zu einer Projektsitzung eingeladen, dabei waren fast alles Männer, die Einladung war unterzeichnet mit Gemeindeammann R. Gautschy. Ich kam ins Sitzungszimmer, begrüsste alle und sagte, wir seien vollzählig und könnten beginnen. Doch ein paar Männer blieben stehen und auf meine Nachfrage sagte einer von ihnen, der Gemeindeammann fehle noch. Er hatte offenbar angenommen, dass dies ein Mann sein müsse und das R. bei meiner Unterschrift zum Beispiel für Robert oder Renato stand.

Sie wurden am Donnerstag als Präsidentin der Gemeindeammänner-Vereinigung verabschiedet. Mehr als 100 Kolleginnen und Kollegen haben Ihnen zu Hause vor der Kamera zugeprostet – wie fühlen Sie sich heute? Erleichtert oder wehmütig?

Für mich war die digitale Generalversammlung ziemlich speziell, ich war zuvor etwas nervös. Statt mit allen Kolleginnen und Kollegen in einem Saal, habe ich praktisch mit der Kamera geredet, das war sehr ungewohnt. Der Moment, als die anderen Gemeindeammänner virtuell mit mir angestossen haben, war schon emotional für mich. Aber ich hatte mich ja schon vor einem Jahr entschieden, bei den Grossratswahlen nicht mehr anzutreten und dann auch das Präsidium der Gemeindeammänner-Vereinigung abzugeben. So konnte ich mich vorbereiten, es war ein Prozess.

Also geben Sie das Präsidium ohne Wehmut ab und freuen sich einfach auf mehr freie Zeit für sich?

Kurz vor der Generalversammlung ging es mir nicht gut. Ich realisierte auf einmal: Jetzt ist es vorbei. Damit fällt viel weg, meine Agenda wird künftig weniger voll sein – aber weil ich sehr gerne Präsidentin war, werden mir Kontakte fehlen. Ich nehme mir nichts Konkretes vor für die Zeit, die jetzt kommt, sondern lasse die Dinge auf mich zukommen. Am meisten freue ich mich, dass ich jetzt mehr Zeit für meine Freunde haben werde. Bisher musste ich zu oft absagen, wenn ich am Abend privat und spontan eingeladen wurde. Sie sind nun also nicht mehr Präsidentin der Aargauer Gemeindeammänner.

Heisst das auch, dass Sie im Herbst nicht mehr als Frau Gemeindeammann von Gontenschwil kandidieren?

Nein, das heisst es nicht, ich möchte gerne nochmals vier Jahre Gemeindeammann in Gontenschwil sein. Wir haben noch einige Projekte, wie zum Beispiel die neuen Führungsstrukturen für die Schule, grössere Überbauungen, oder die 850-Jahr-Feier. Auch Vizeammann Bruno Ellenberger, der wie ich seit 1998 im Gemeinderat sitzt, wird im Herbst nochmals zur Wahl antreten.

Sie waren elf Jahre Präsidentin der Aargauer Gemeindeammänner – die erste Frau in diesem Amt und zugleich die erste Vertreterin einer kleinen Gemeinde. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Sehr intensiv, sehr herausfordernd, aber auch sehr bereichernd. In diesem Amt ist es wichtig, gut zuzuhören und zu vermitteln zwischen den Interessen aller Beteiligten. Wichtig war auch, dass wir eine Geschäftsstelle für die Vereinigung aufbauen konnten. Es wäre heute unmöglich, das Amt ohne Geschäftsstelle zu führen und die administrativen Arbeiten praktisch der Gemeindeverwaltung des Präsidenten oder der Präsidentin aufzubürden.

Ihr Nachfolger Patrick Gosteli und Landammann Stephan Attiger sagten bei der Verabschiedung, bei schwierigen Diskussionen hätten Sie Ihren Charme eingesetzt und damit etwas erreicht – stimmt das?

Wenn die beiden das sagen, wird es wohl stimmen (lacht). Nein, im Ernst, ich bin ein sehr positiver, humorvoller Mensch und mir ist es wichtig, dass bei wichtigen Sitzungen und schwierigen Diskussionen eine gute Atmosphäre herrscht. Man kann in der Sache hart und kontrovers diskutieren, aber es braucht immer eine gute Gesprächskultur. Ich habe versucht, diese zu schaffen, um möglichst gute Lösungen zu finden, hinter denen alle stehen.

Sie waren jahrelang Grossrätin und Präsidentin der Gemeindeammänner-Vereinigung – hatten Sie jemals das Gefühl, dass es für Sie als Frau in der Politik schwieriger ist als für einen Mann?

Nein, dieses Gefühl hatte ich nie – und ich sass oft als einzige Frau unter vielen Männern an einem Sitzungstisch. Ich habe im Grossen Rat unter anderem die UBV-Kommission präsidiert, da ging es um Strassenprojekte, Deponiestandorte oder Raumplanung. Das sind nicht unbedingt Frauenthemen, wenn man es so ausdrücken will. Ich habe mich in die Materie eingearbeitet, war gut vorbereitet an den Sitzungen und hatte keine Probleme. Ich habe jedenfalls nie einen Spruch oder einen schrägen Blick erlebt, der hätte andeuten sollen, dass ich als Frau bei diesen Themen keine Ahnung habe, im Gegenteil.

Mit dem Rücktritt aus dem Grossen Rat und als GAV-Präsidentin ziehen Sie sich aus der kantonalen Politik zurück – war ein Amt als Regierungsrätin oder ein Nationalratsmandat für Sie jemals ein Ziel?

Ich habe einmal für den Nationalrat kandidiert, das war aber eher meiner Partei zuliebe, denn ich bin eine ausgeprägte Exekutivpolitikerin. Ich bin jemand, der gern Entscheidungen trifft, das langwierige Gesetze schreiben liegt mir weniger. Insofern hätte mich das Amt als Regierungsrätin gereizt, als ich noch jünger war. Aber, wie es so ist im Leben, ich war nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Oder anders herum, es hat für mich gestimmt, so wie es war.

Regierungsrat Dieter Egli sagte am Donnerstag, starke Gemeinden seien das Fundament des Kantons und der Schweiz. In der Coronapandemie entscheiden oder befehlen, aber vor allem der Bundesrat und der Regierungsrat.

Das ist in dieser Situation, wo es sehr kurzfristige Entscheidungen braucht, wohl unumgänglich. Im Aargau haben wir als Gemeindevertreter einen sehr guten Draht zur Regierung, wir können unsere Anliegen jederzeit einbringen und finden auch Gehör. In Bern ist das leider anders, ich habe manchmal das Gefühl, der Bundesrat denkt nur bis zu den Kantonen oder zur Konferenz der Gesundheitsdirektoren. Die Gemeinden, die an der Front stehen und direkt im Kontakt mit der Bevölkerung sind, werden kaum wahrgenommen.

Letzte Woche wurde über Coronademonstrationen diskutiert, die Kantone Baselland und Uri verbieten die Kundgebungen. Der Aargauer Regierungsrat sagt, es sei Sache der Gemeinden, eine solche Veranstaltung zu bewilligen – finden Sie das richtig?

Man kann sich natürlich fragen, ob es gut wäre, hier eine kantonale Regelung zu haben, damit der Druck auf die Gemeindebehörden weniger gross ist. Aber ich bin der Meinung, ein Gemeinderat kann in Absprache mit der Polizei diesen Entscheid auch treffen. Selbstverständlich ist das Abwägen von Pro und Contra nicht einfach, aber das ist ja gerade das Wesen der Politik und das kann ein Gemeinderat.

Nach der Coronademo in Wohlen gab es Kritik an Gemeindeammann Arsène Perroud, weil er die Kundgebung bewilligt hatte. Wie stehen Sie zu dieser Frage, hätten Sie eine Demo auch bewilligt?

Die Coronademo von Wohlen war bei uns in der Gemeindeammänner-Vereinigung weder vor noch nach der Veranstaltung ein Thema. Arsène Perroud hat das mit seinem Gemeinderat diskutiert und sie haben entschieden. Ich finde es richtig, dass die Demonstration in Wohlen stattfinden konnte.

Wenn jetzt erneut ein Gesuch für eine Coronademo im Aargau eingereicht würde und Sie entscheiden müssten: Würden Sie die Kundgebung bewilligen?

Ja, das würde ich in Absprache mit dem Gemeinderat auch nach den Eindrücken von Liestal tun. Ich würde klare Auflagen wie Maskenpflicht und eine feste Route für den Demonstrationszug festlegen und natürlich die Absprache mit der Polizei suchen. Unter solchen kontrollierten Bedingungen bin ich der Meinung, dass auch in Gontenschwil eine Demonstration stattfinden könnte.

Die letzten Demos haben gezeigt, dass sich die meisten Teilnehmer nicht an die Maskenpflicht halten. Baselland und Uri verbieten neue Kundgebungen nun auch mit dem Verweis auf das Infektionsrisiko.

Man muss bei dieser Frage abwägen, finde ich. Wir sind nun seit einem Jahr in der Coronapandemie, es gibt immer wieder Einschränkungen. Da ist es aus meiner Sicht verständlich, dass bei der Bevölkerung der Unmut wächst, insbesondere auch aufgrund der Zahlenungenauigkeit, die man beim BAG hat. Es ist richtig, dass in Liestal die Maskenpflicht nicht eingehalten und damit eine Auflage der Gemeinde verletzt worden ist. Die Demonstration verlief aber friedlich und es konnte mit der Kundgebung gegen ein empfundenes Unrecht gekämpft werden.

Wie stehen Sie persönlich zu den Coronamassnahmen von Bund und Kanton? Im sozialen Netzwerk Linkedin haben Sie sich erst kürzlich kritisch zu Massentests und dem R-Wert geäussert.

Es ist mir klar, dass es Massnahmen gegen das Coronavirus braucht und als Gemeindeammann bin ich loyal zum Regierungsrat und unterstütze dessen Entscheidungen. Aber man muss sich auch die Frage stellen dürfen, ob die Massnahmen verhältnismässig sind und ob es nicht auch mit weniger Einschränkungen gehen würde. Ich denke auch an die Auswirkungen für Wirtschaft und Gesellschaft, daran werden wir noch lange zu beissen haben.

Trotz Corona zeigen die bisherigen Rechnungsabschlüsse, dass die meisten Gemeinden deutlich über Budget abschliessen und zum Teil massive Überschüsse erzielen – wie lässt sich das erklären?

Die Rechnung 2020 basiert bei den Steuereinnahmen noch auf dem Jahr 2019, und das war zum Teil sehr gut. Dazu kommen Sondereffekte wie zum Beispiel ausserordentliche Aktiensteuern, Erbschafts- und Grundstückgewinnsteuern in einigen Gemeinden, die für sehr gute Rechnungsabschlüsse sorgen. Dennoch bin auch ich selber überrascht, dass die Rechnungen zum Teil so gut ausfallen.

Auch der Kanton hat eine hervorragende Rechnung 2020 präsentiert, der Überschuss soll in die Ausgleichsreserve für schlechte Zeiten gelegt werden. Was empfehlen Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Gemeinden?

Die Aussichten für die nächsten Jahre sind relativ düster, wir müssen aufgrund der Coronamassnahmen mit Steuerausfällen rechnen. Dadurch steigen auch die Arbeitslosenzahlen, die Sozialausgaben steigen weiter, weil die Finanzierung des Bundes für Flüchtlinge ausläuft. Ich empfehle deshalb, einen Überschuss ins Eigenkapital einzulegen, damit allenfalls keine Bilanzfehlbeträge geschrieben werden müssen. Dort wo es möglich ist, sollten auch die Steuern gesenkt werden.

Auch die Gemeinderatsentschädigung ist immer wieder ein umstrittenes Thema. Am Freitag hat der Gemeinderat Fislisbach bekanntgegeben, dass er auf eine Lohnerhöhung verzichtet, weil die Gemeinde letztes Jahr ein Minus von 1 Million Franken gemacht hat – finden Sie das richtig?

Als Zeichen an die Bevölkerung finde ich den Entscheid aus Fislisbach gut, dass der Gemeinderat in der Krise auf eine Erhöhung der Entschädigung verzichtet. Andererseits wird die Arbeit für die Behörden während der Coronapandemie nicht weniger, die Tätigkeit des Gemeinderats wird gar eher anspruchsvoller. Also gibt es sachlich keinen Grund, die Entschädigung nicht massvoll dem Aufwand anzupassen.

Nicht nur, aber auch wegen der zum Teil schlechten Entschädigung ist es schwierig, Gemeinderäte zu finden. Im Grossen Rat gibt es Vorstösse für ein Stimm- und Wahlrecht von Ausländern auf kommunaler Ebene – was halten Sie davon?

Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass sich integrierte Ausländer einbürgern lassen sollten, damit sie am politischen Leben teilnehmen können. Wer mitentscheiden möchte, sollte eine Leistung dafür erbringen. Ich sehe hier im Dorf, dass sich viele zum Beispiel im Fussballclub als Spieler und Trainer engagieren. Das ist auch eine solche Leistung für die Allgemeinheit. Um sich als Gemeinderat wählen lassen zu können, ist der Schweizer Pass nötig. In der Gemeinde wählen und abstimmen: Das könnte nach einer eingehenden politischen Diskussion auch für Ausländer mit einer Niederlassungsbewilligung möglich werden.

Die Stimm- und Wahlbeteiligung in der Schweiz ist eher bescheiden. Neben dem Ausländerstimmrecht könnte man sie auch mit Stimmrechtsalter 16 erhöhen?

Es gibt Jugendliche, die mit 16 Jahren schon sehr interessiert sind an der Politik und auch einen wichtigen Beitrag leisten könnten. Grundsätzlich bin ich offen für dieses Anliegen, aber solange man erst mit 18 mündig ist, finde ich das schwierig. Rechte rufen auch nach Pflichten. Ich rate daher den politikinteressierten Jugendlichen, sich gut vorzubereiten und dann mit 18 durchzustarten, wenn sie wollen.

Renate Gautschy

Renate Gautschy (66) war elf Jahre Präsidentin der Gemeindeammänner-Vereinigung des Kantons Aarau. Sie sitzt seit 1998 im Gemeinderat von Gontenschwil und ist hier seit 2000 auch Gemeindeammann. Gautschy sass von 2005 bis Ende 2020 für die FDP im Grossen Rat. Sie hat ursprünglich eine KV-Lehre absolviert, sich im Bereich Führung weitergebildet und war danach selbstständige Unternehmerin. Die Freisinnige hat bei vielen Projekten im Zusammenhang mit dem Milizsystem und der direkten Demokratie mitgearbeitet. Renate Gautschy ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern, sie lebt in Gontenschwil und tritt bei den Wahlen im Herbst nochmals als Gemeindeammann an. (fh)