Irreführende Zahlen, unnütze Masken, mutierter Virus? Sechs Corona-Behauptungen im Faktencheck mit KSA-Chefarzt Fux

Sind die täglichen Coronastatistiken Panikmache? Bringen Schutzmasken gar nichts? Sind die verordneten Einschränkungen im Alltag übertrieben und deshalb die Pandemie trotz der steigenden Zahlen gar nicht so schlimm, wie von Behörden und Medien dargestellt? Auch im Kanton Aargau sind diese und weitere Thesen verbreitet, welche die Coronapolitik von Bund und Kanton und die damit verbundenen Massnahmen in Frage stellen. Christoph Fux, Chefarzt Infektiologie vom Kantonsspital Aarau (KSA), geht auf diese Aussagen ein und gibt eine differenzierte Einordnung aus Sicht des Fachmanns.

Die nachfolgenden Antworten basieren hauptsächlich auf den Aussagen von Chefarzt Fux im «Talk Täglich» vom letzten Dienstag (3.11.):

These 1: Die Coronastatistiken sind irreführend. Die Fallzahlen der positiv getesteten Personen sind irrelevant, nur die Anzahl Patienten auf Intensivstationen zählt.

Chefarzt Christoph Fux: «Das ist aus mehreren Gründen eine schwierige Aussage.

Erstens: Die Zahl der Coronapatienten auf der Intensivstation ist ja nur der Endpunkt einer unheilvollen Entwicklung. Schaut man nur darauf, nimmt man sich jede Zeit, um rechtzeitig zu reagieren. Das ist, wie wenn man beim Spaghetti-Kochen das Gas erst zurückdrehen würde, wenn das Wasser schon auf Höhe des Pfannenrandes ist. So kann man ein Überschwappen nicht mehr verhindern.

Zweitens: Je mehr Angesteckte es in der Bevölkerung gibt, desto mehr müssen wir Alte und Menschen mit Vorerkrankungen schützen, das heisst vom Alltagsleben fernzuhalten. Wenn sich die Jüngeren etwas mehr einschränken, bringt man die Fallzahlen runter und das heisst Freiheit für die älteren Generationen.

Bei einer hohen Fallzahl werden zudem nicht nur die Intensivstationen, sondern auch die Bettenstationen stark belastet: Wir rechnen damit, das 5% der 60–70-Jährigen und 10% der 70–80-Jährigen mit einer Covid-19-Infektion hospitalisiert werden müssen.»

Gegenargument: Die Covid-Fälle nehmen zwar stark zu, aber die Zahl der Hospitalisierung zieht nicht gleich stark mit.

Chefarzt Fux: «Die Anzahl Hospitalisierungen korreliert vor allem mit dem Alter: Je älter, desto schwerer krank wird man. In der 1. Welle waren viele alte Menschen betroffen, die hospitalisiert werden mussten. Im Sommer haben sich dann fast nur junge Menschen angesteckt, bei denen die Infektion einen milden Verlauf nimmt. Aktuell zu Beginn der zweiten Welle liegt das Durchschnittsalter von positiv Getesteten bei 42 Jahren, 10 Jahre tiefer als in der ersten Welle. Das bedeutet automatisch weniger Hospitalisationen.

Nun, da wieder alle Bevölkerungsschichten betroffen sind, werden auch wieder mehr alte Menschen angesteckt und die Hospitalisationsraten wieder steigen. Auch die Anzahl Todesfälle kann man direkt aus der Fallzahl ableiten: Für die erste Welle im Frühling hat man Hochrechnungen gemacht, die zeigen: Hätte die Schweiz den Lockdown eine Woche vorher begonnen, hätte man 80 Prozent der Toten vermeiden können.

Hätte man umgekehrt den Lockdown nur drei Tage später begonnen, hätte es 1800 Tote mehr gegeben. So ist es auch jetzt: Auf hundert Neuinfizierte stirbt eine Person. Das ist im Aargau und in der ganzen Schweiz so. Das muss man in die Rechnung stets miteinbeziehen.»

These 2: Man soll nur Risikogruppen schützen und den Grossteil der Bevölkerung mit den Massnahmen verschonen.

Chefarzt Fux: «Theoretisch vielleicht. Aber das funktioniert in der Praxis nicht. Bei einer solchen Barriere zwischen Risikogruppen und Restbevölkerung würde es immer wieder zu Hygienefehlern mit Infektionen kommen. Darum braucht es verschiedene Sicherheitsstufen, um die Risikogruppen zu schützen.

Sich nur auf die Risikogruppen zu fokussieren, wäre ein Spiel mit dem Feuer. Man darf die Dynamik der Prozesse nicht unterschätzen. Am 1. Oktober war die Welt noch in Ordnung, die Zahlen waren tief. Sogar die Science-Taskforce sagte, wir machen es gut. Nur ein Monat später steht uns das Wasser bis zum Hals. Eine Bevölkerung im Verhalten zu führen braucht Wochen und Monate, das kann man nicht kurzfristig und eingeschränkt auf einzelne Gruppen durchsetzen.»

These 3: Es gibt weniger schwere Fälle und Tote, weil man Corona mittlerweile viel besser behandeln kann.

Chefarzt Fux: «Wir haben tatsächlich viel gelernt in den letzten Monaten: Wir mussten viele Medikamente aussortieren, die nicht funktionieren; dafür wissen wir jetzt, dass Blutverdünner und Kortisonbehandlung wichtig sind bei der Behandlung von Covid-Patienten. Trotz aller Verbesserungen haben wir leider aber immer noch eine relevant hohe und eindrücklich konstante Mortalität.»

These 4: Masken schützen gar nicht und können sogar schädlich sein.

Chefarzt Fux: «Für jemanden der im Spital arbeitet, ist so eine Aussage nicht nachvollziehbar. Ich gebe ein Beispiel: Meine Sekretärin hat sich privat mit Covid-19 angesteckt. Sie arbeitete bis zum Symptombeginn (man ist ja 2–5 Tage vor Symptombeginn bereits ansteckend) täglich in einem Viererbüro, hat dabei konsequent eine Maske getragen und sogar – mit Abstand, aber im selben Raum – mit ihren Kolleginnen zu Mittag gegessen. Niemand hat sich angesteckt. Wer Maske trägt und Distanz hält, minimiert das Risiko sich anzustecken.»

Gegenargument: Viele tragen die Maske falsch und wiegen sich in falscher Sicherheit.

Chefarzt Fux: «Der Umgang mit Masken ist tatsächlich nicht ganz trivial. Man muss sich bewusst sein: Aussen an der Maske (oder innen, wenn man selber Träger ist) kann das Virus sitzen. Wann immer man die Maske berührt hat (die Bändel sind da viel sicherer), muss man Hände waschen oder desinfizieren. Und man soll die Maske auch nicht einfach in die Hosentasche stecken, sondern sie in einen Couvert oder einem Papiersäckli aufbewahren. Schädlich kann eine Maske nie sein, sie kann im schlechtesten Fall einfach nichts nützen.»

These 5: Das Virus ist mutiert und nicht mehr so gefährlich.

Chefarzt Fux: «Die bisherigen genetischen Veränderungen sind gering und vermögen unterschiedliche Krankheitsverläufe und Todesraten nicht zu erklären. Die Differenzen etwa zwischen der ersten und der zweiten Welle erklären sich dadurch, dass unterschiedliche Patientengruppen miteinander verglichen werden: Unterscheiden sich zwei Gruppen im Alter, ist auch die Mortalität unterschiedlich.

Testen wir zu wenig (in der 1. Welle konnten wir nur sehr beschränkt testen), verpassen wir viele kaum symptomatische Fälle, welche keine Spitalpflege brauchen und nicht sterben. Das erhöht dann die Sterblichkeit der diagnostizierten Fälle scheinbar.»

These 6: Nur eine Durchseuchung der Bevölkerung löst das Problem.

Chefarzt Fux: «Theoretisch ist das möglich. Das ist ein Spiel mit dem Feuer; der Preis dafür sind Leben. Ich staune immer wieder über den Mut gewisser Wirtschaftskreise, mit solch hohem Einsatz zu pokern. Wenn wir ohne Massnahmen weitermachen würden, nur weil wir zu dem Zeitpunkt alles noch im Griff und genug Platz in den Spitälern haben, verschliessen wir die Augen nur schon vor der Situation in zwei Wochen. Wir wollen nicht so weit kommen, dass es plötzlich zu wenig Intensivplätze hat, die Ärzte entscheiden müssen, wer noch einen Platz bekommt auf der Intensivstation und wer nicht.

Für eine Herdenimmunität bräuchte es zudem eine Vielzahl von weiteren Wellen; ein psychisch stark belastendes ständiges auf und ab.»

Unterbrechung der Übertragungsketten ist essentiell

Um eine Epidemie zu kontrollieren, müssen sekundäre Ansteckungen vermieden werden. Dafür sind 2 Dinge notwendig:

1.    Die Identifikation ALLER Infizierter. Dafür ist es wichtig, sich selbst bei geringen Atemwegs-Symptomen, unklarem Fieber oder Geruchs- und Geschmacksstörungen SOFORT testen zu lassen. Bis zum Erhalt des Resultates sollten sich Verdachtsfälle in Selbstisolation begeben; ist der Abstrich positiv, kommen sie für 10 Tage in Isolation

2.    Die Identifikation und baldmöglichste Benachrichtigung enger Kontaktpersonen, welche infiziert worden sein könnten und nun unbemerkt – zumindest 2 Tage vor Symptombeginn ist man schon ansteckend – das Virus weitergeben. Diese Personen müssen sich für 10 Tage in Quarantäne begeben.

Die Isolations- und Quarantäne-Anordnungen werden grundsätzlich vom kantonalen Contact Tracing Center (Conti) vorgenommen. Aufgrund der massiv gestiegenen Fallzahlen ist eine Benachrichtigung durch das Conti aktuell nicht mehr zeitgerecht möglich. Deshalb haben seit einer Woche die Spitäler, Hausärzte und Testcenters die Information der positiv Getesteten übernommen. Personen mit COVID-19 werden dabei beauftragt, Ihre Risikokontakte verbindlich zu informieren, dass sie sich in Quarantäne begeben müssen. Die offiziellen Dokumente werden baldmöglichst vom Conti nachgereicht. Als Risikokontakte gelten Kontakte mit <1.5 Meter Distanz für >15 Minuten ohne Schutzmassnahme, im gleichen Haushalt lebende und Intimkontakte.