Ist Mentaltraining etwas für Problemfälle?

Das Interview möchte Hans-Peter Wernli nicht im Büro und auch nicht in der Wohnung führen. «Wie wäre es mit dem Rosengarten?», schlägt er vor, «ich finde diesen Ort sehr inspirierend.» Das Wetter spielt mit und der frühere Friedhof in Zofingen bietet die ideale Kulisse für ein Gespräch, bei dem wir – passend zum Thema – den Gedanken freien Lauf lassen können.

Wie sieht es mit Ihren mentalen Fähigkeiten aus?

Hans-Peter Wernli: Die brauche ich oft. Seit dem Beginn meiner Tätigkeit als Mentaltrainer vor sieben Jahren läuft auch in der Selbstreflexion sehr viel. Ich arbeite jeden Tag an mir und ich lerne jeden Tag etwas dazu.

Das war aber vorher kaum anders?

Doch, für mich ist es deutlich anders. Ich merke, dass ich mit dem jetzigen Wissen einen ganz anderen Zugang zum Körper und auch zu meinem Ganzen habe.

Können Sie beziffern, wieviel das Mentale im heutigen Spitzensport ausmacht?

Eine Zahl ist ganz schwierig zu nennen, aber sicher viel. Bei einem Athleten sind es zwei Prozent, bei einem anderen sind es dreissig. Es ist ganz unterschiedlich. Es ist mittlerweile aber etwas ganz Wichtiges und für viele Spitzensportlerinnen und Spitzensportler absolut normal.

Weshalb nehmen dann nicht alle Mannschaften, Sportlerinnen und Sportler regelmässig die Dienste eines Mentaltrainers in Anspruch?

Ich weiss nicht, ob es nicht alle machen. In der Schweiz hat Mentaltraining vielleicht immer noch einen etwas komischen Beigeschmack. Bei vielen Athleten von Sportarten, die Swiss Olympic unterstellt sind, hörst du in Interviews immer öfters, dass sie von Mentaltraining sprechen. Es wird also immer mehr akzeptiert und gefördert – von Swiss Olympic, von den Verbänden und von den Athletinnen und Athleten selbst. Das ist seit den Olympischen Spielen 2012 in London so, als man gemerkt hat, dass ein grosses Defizit gegenüber etwa Deutschland und Österreich vorhanden ist.

Es gibt aber noch solche, die kein Mentaltraining machen. Brach liegendes Potenzial?

Das würde ich sagen.

Werden Ihre Dienste nur bei akuten Schwierigkeiten in Anspruch genommen?

Der Auslöser ist oftmals eine Blockade. Es gibt Sportler, mit denen ich schon über Jahre zusammenarbeite und in dieser Zeit hast du natürlich nicht immer ein Problem. Da ist das Mentaltraining einfach ein Bestandteil des Trainings. Es gibt andere, die kommen nur ein paar Mal, weil sie etwas ganz gezielt aus der Welt schaffen wollen. Es gibt nicht DEN Fall.

Wann oder bei welchen Problemen kommen Sportlerinnen und Sportler auf Sie zu?

Das ist ganz unterschiedlich. Es kommt ganz selten jemand zu mir und sagt, er habe ein Problem. Er sagt vielleicht: Ich komme nicht weiter. Man gesteht sich nicht gern ein, ein Problem zu haben. Es gibt viele verschiedene Ursachen für einen Besuch bei mir: Das kann ein Sturz sein, eine Verletzung, ein nicht zu erreichendes Ziel. Es kommt nicht zuletzt darauf an, ob es einen Einzelsport oder einen Teamsport betrifft. Mit einer Mannschaft, die als Einheit weiterkommen will, arbeitest du als Gesamtes, aber auch mit jedem Einzelnen – weil es auch jeden Einzelnen braucht.

Aus welchen Grundpfeilern besteht Ihre Arbeit?

Für mich sind es fünf Dinge: das Arbeiten an einem Ziel, die Selbstgesprächsreflexion, die Visualisierung, die Wettkampfvorbereitung und das persönliche Umfeld. Diese fünf Punkte schneide ich immer mindestens an. Mit Leuten, mit denen du länger zusammenarbeitest, gehst du ganz gezielt in diese Bereiche rein.

Reicht eine Sitzung oder sollte die Zusammenarbeit über Jahre andauern?

Eine reicht nicht, das hatte ich auch noch nie. Wie viele es tatsächlich werden, ist aber unterschiedlich. Zum Beispiel gibt es selbstverständlich einen Unterschied zwischen dem Hobby- und Profisportler. Bei einem Profi, der sich für Mentaltraining entscheidet, kann das bis zum Karriereende gehen. Beim Hobbysportler spielt auch das Finanzielle eine Rolle. Wenn sich seine Blockade innerhalb von drei Sitzungen lösen lässt, ist das absolut in Ordnung.

Gibt es auch Fälle, bei denen nichts zu machen ist?

Nein, das hatte ich noch nie. Es kann höchstens sein, dass man bei einem spezifischen Problem nicht entscheidend weiterkommt. Manchmal müssen wir deshalb das Ziel korrigieren.

Gibt es Blockaden, die kaum zu lösen sind?

Ich habe mit einem Downhillbiker zusammengearbeitet, der einen Sturz hatte. Wir haben verschiedenste Dinge bis hin zu Hypnose angewendet. Aber wir haben es nicht geschafft, die Blockade aus dem Kopf zu bringen. Letztlich hat dann ein Arzt festgestellt, dass es ein medizinisches Problem ist.

Ist es im mentalen Bereich auch so, dass es einfacher ist Fortschritte zu erzielen, wenn man jung ist?

Das würde ich so nicht sagen.

Ab welchem Alter macht Mentaltraining Sinn?

Im Moment ist mein jüngster «Kunde» elf Jahre alt, spielt Fussball und verspürt von überall einen grossen Druck. Zu Beginn hatte ich Mühe, mit Kindern zu arbeiten. Inzwischen finde ich es sensationell. Die Arbeit ist eine ganz andere: Du zeichnest mit ihnen, du lässt sie etwas gestalten und sie merken gar nicht, dass sie mental arbeiten. Kinder sind offen. Das Limit gegen unten ist wahrscheinlich der Start in die Schule.

Und gegen oben gibt es ja sicher kein Limit.

(lacht) Nein, meine älteste «Kundin» ist 81 Jahre.

Gibt es Unterschiede in der Betreuung der Sportarten?

Nein, es geht für mich um den Menschen. Ich bin der Meinung, ich muss die Sportart nicht verstehen, sondern den Menschen. Er sagt mir ja, wo sein Problem liegt. Ich habe aber Kollegen, die nur Sportlerinnen und Sportler betreuen, die aus Sportarten kommen, die sie selber ausüben.

In welcher Sportart ist Mentaltraining am wichtigsten?

Das kann man so nicht sagen.

Ein Extremsportler braucht nicht mehr mentale Fähigkeiten als ein Teamsportler?

Nein, denn damit einer Extremsportler wird, hat er schon ganz andere Voraussetzungen. Ich betreue auch Hobbysportler, etwa aus dem Schiessbereich, die lernen müssen, rechts und links auszublenden.

Ist Mentaltraining für Sie reine Theorie oder sind Sie auch an Wettkämpfen dabei?

Ich bin auch an Wettkämpfen dabei. Es sind etwa drei Viertel Sitzungen und ein Viertel Wettkämpfe. Es kommt immer darauf an, an was wir gerade arbeiten. Wenn es bei einem Sportler etwa um den Umgang mit dem Publikum geht, will ich das vor Ort sehen. Wie bereitet er sich vor? Was hat er für eine Körpersprache? Lässt er sich ablenken?

Greifen Sie während des Wettkampfs auch ein?

Eigentlich nicht, ausser er wünscht es explizit. Das ist aber eher selten. Es gibt Sportlerinnen und Sportler, die genau wissen wollen, wo ich stehe, damit sie mit mir durch ein Zeichen Kontakt aufnehmen können.

Aufgefallen ist am «Eidgenössischen» in Zug, dass immer mehr Spitzenschwinger auf einen Mentaltrainer setzen?

Ein Schwinger hat verschiedene Gänge, also verschiedene Wettkämpfe. Dass zwischen zwei Gängen etwas gemacht wird, das gibt es. Bei Sportarten ohne Pause geht das aber fast nicht.

Wie soll eine Sportlerin oder ein Sportler kurzfristig mit Rückschlägen umgehen?

Dort ist die Selbstgesprächsreflexion ganz wichtig. Der Athlet muss lernen, was in seinem Kopf vorgeht. Jeder hat in seinem Kopf gute und böse Männchen. Wenn das Böse das Zepter übernimmt, musst du das abschalten können und wieder in deinen Tunnel zurück. Bei einem Schützen beispielsweise hilft eine gute Atemtechnik. Ausserdem ist die Visualisierung wichtig. Es gibt Leute, die können aber nicht visualisieren. Den wichtigsten Schritt hat jeder schon gemacht, wenn er die Unterstützung eines Mentaltrainers in Anspruch nimmt. Er beweist damit, dass er das Problem erkannt hat und weiterkommen will.

Wir bringt man eine mentale Stabilität während eines Wettkampfs hin?

Gewisse Wellen muss man zulassen. Du kannst nicht neun oder zehn Stunden absolut fokussiert sein. Wichtig ist zu erkennen, wo ich abschalten kann und wo nicht. Das übt man in der Wettkampfvorbereitung.

Wie bringt man Gedanken ans Versagen aus dem Kopf?

Das hat mit dem Bereich Selbstgesprächsregulation zu tun. Das ist eine reine Übungssache. Du musst die negativen Glaubenssätze zulassen, weil sie sowieso kommen. Du musst wissen, was du dann machen kannst, dass das Positive das Negative überdeckt. Etwa eine Erinnerung an einen früheren Wettkampf oder an einen schönen Ort.

Wie schwierig ist der Spagat zwischen Selbstvertrauen und Überheblichkeit?

Der Spagat ist vorhanden. Man darf dazu stehen, wenn man sich ein Ziel gesetzt hat. Der Sportler braucht ein Ziel. Wenn aber einer in einen Wettkampf steigt und sagt «ich gewinne sowieso», dann ist das Überheblichkeit und nicht gut. Ganz an der Spitze gibt es aber nur das Gewinnen. Ob man das gegen aussen auch so kundtun muss, ist eine andere Frage.

Was macht einen guten Mentaltrainer aus?

Was ist ein guter Mentaltrainer? Es muss vor allem für die Athletin oder den Athleten stimmen. Für mich ist ganz wichtig, dass ich den Menschen wahrnehme und nicht seine Erfolge.

Passen Mentalcoach und Sportler immer zusammen?

Natürlich nicht und das muss man so akzeptieren. Ich habe das aber glücklicherweise noch nicht erlebt. Das hängt aber auch mit der Vorselektion zusammen, die vom Athleten getroffen wird.

Wie wichtig wird das Mentaltraining in Zukunft sein?

Wir sind in diesem Bereich auf einem höheren Level als auch schon. Aber ich bin überzeugt, dass es noch wichtiger wird. Das Tabu wird immer mehr gebrochen und es werden von den Verbänden auch immer mehr Gelder gesprochen, die zweckgebunden dafür eingesetzt werden müssen.

Zur Person

Der Zofinger Hans-Peter Wernli ist 56 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Jungs (16 und 18). Er ist gelernter Banker und hat vor sieben Jahren die Ausbildung zum systemischen Coach und diplomierten Sportmentaltrainer gemacht. Er arbeitet seither 50 Prozent in diesem Bereich und 50 Prozent als Angestellter der Stadt Zofingen (Fachstelle Alter und Gesundheit). Um die Jahrtausendwende war er Geschäftsführer des TV Suhr. Als Sportmentaltrainer hat es der aus dem Mountainbike kommende Wernli mit Athletinnen und Athleten vieler Sportarten zu tun, unter anderem mit allen Swiss-Cycling-Disziplinen, Fussball, Handball, Schiessen, Eishockey, Reiten und Kunstrad.