Jetzt haben es alle schwarz auf weiss, ob sie nach Tokio dürfen

Mit einjähriger Verspätung sollen am 24. August in Tokio die Paralympics eröffnet werden. Seit dieser Woche ist bekannt, wer in Japan die Schweiz vertritt. 13 Frauen und 7 Männer wurden selektioniert. Das Prozedere, bis die Delegation zusammengestellt war, war ausgeklügelt, die Limiten klar definiert. «Die Entscheide über Selektion oder Nicht-Selektion waren zum Teil sehr, sehr hart», sagt Roger Getzmann, Chef de Mission Tokio 2020. Nicht alle Athleten, die die Vorgaben erfüllt hatten, erhielten ein Aufgebot, weil es zu wenig Startplätze gab.

Nicole Häusler hatte der Schweiz an der WM 2018 mit Platz 9 im 10m-Luftgewehr-Schiessen einen der Quotenplätze gesichert. Die Pfaffnauer Rollstuhlschützin ist in ihrer Disziplin national fast konkurrenzlos. «Trotzdem wollte ich mich erst über das Aufgebot freuen, wenn ich es schwarz auf weiss habe», sagt die 41-Jährige, die aufgrund ihrer Multiplen Sklerose auf den Rollstuhl angewiesen ist. Letzte Woche war es soweit. «Die Vorfreude auf Japan wächst jeden Tag», sagt die Luzernerin, die bereits 2016 an den Paralympics in Rio teilnahm. Mit der Austragung in Brasilien seien die Spiele in Japan kaum vergleichbar. «Wir werden abgeschirmt und eingeschränkt sein, es wird nicht viel Stimmung aufkommen, aber der Wettkampf büsst deshalb nichts von seinem Stellenwert ein», betont Häusler. Ihr hoch gestecktes Ziel ist die Finalqualifikation.

Aufgrund der Corona-Pandemie reist Nicole Häusler mit Respekt nach Tokio. «Ich bin seit April geimpft und weiss, dass die Organisatoren alles tun, um uns zu schützen», so die im Spital Langenthal tätige Radiologiefachfrau. Fragen von Menschen im Umfeld, ob sie wirklich an diesen Grossanlass wolle, schiebt sie vehement beiseite. «Die Kritiker sollen ihre Gedanken für sich behalten. Mein Kopf muss sich auf den Wettkampf fokussieren, da ist kein Platz, ständig darüber nachzudenken, ob und wie die Paralympics stattfinden, ob ich gesund bin dann oder wie die Konkurrenz zwäg ist.» Die Flüge für sie und ihren Trainer Walter Berger sind gebucht. «Dreimal hat die Airline die Flüge schon verschoben und wir müssen immer wieder neue Dokumente und Fotos von meiner Ausrüstung einreichen», erzählt Häusler, der Papierkram sei es aber allemal wert.

Ihr 10m-Luftgewehr-Wettkampf ist am 30. August und 1. September, ihr Flug geht am 21. August. So hat Nicole Häusler Zeit, sich ans feuchtwarme Klima zu gewöhnen und zu schauen, ob die ihr empfohlene Kühlweste für den Alltag in Japan dient. Unter der Schiessjacke wird diese nicht Platz haben.

Es ist unschön, wenn der Plan nicht aufgeht

Weniger «Glück» bei der Selektion hatten Paracycling-Standing-Athlet Roger Bolliger aus Bottenwil und Rollstuhl-Leichtathlet Fabian Blum aus Pfaffnau – trotz erfüllter Vorgaben. Wie gross ist die Enttäuschung? «Als Sportler setzt du dir Ziele, arbeitest darauf hin. Klar ist es unschön, wenn der Plan nicht aufgeht», sagt Roger Bolliger. Für den 47-Jährigen, der nach einem Arbeitsunfall sein rechtes Bein beim Oberschenkel amputieren lassen musste, wären es wie für Häusler nach Rio die zweiten Paralympischen Spiele gewesen. «Ich habe die Resultate der anderen verfolgt und mitgerechnet und wusste, dass es eng wird», sagt Bolliger. «Gerade der Sport lehrt einen, gewisse Entscheidungen zu akzeptieren und vorwärts zu schauen. Ich wünsche allen, die nach Tokio dürfen, viel Glück», beweist der mehrfache Schweizer Meister Sportsgeist. Der Routinier setzt seine Karriere trotz Dämpfer fort, um Quotenplatzpunkte zu sammeln und für die wachsende Para-Cycling-Crew ein Zugpferd zu sein.

Leise Hoffnung auf ein Nachrücken

Fest mit seiner Paralympics-Premiere gerechnet hat Fabian Blum. «Die Enttäuschung ist schon riesig», sagt der EM-Bronze-Gewinner über 1500m. Der Pfaffnauer mag aktuell noch nicht mal daran denken, sich die Wettbewerbe am Fernseher anzuschauen. Der 26-Jährige wusste, dass unter den Rollstuhlathleten der Luzerner Beat Bösch, der im Herbst seiner Karriere ist, gesetzt sein wird, ebenso der Thurgauer Ausnahmekönner Marcel Hug. Statt für Blum entschied sich das Selektionsgremium für Sprinter Philipp Handler. «Wir hätten Fabian gerne auch mitgenommen», sagt Chef de Mission Roger Getzmann, letztlich fiel die Wahl auf Handler, weil er jüngst seine persönliche Bestzeit über 100m auf 11:05 Sekunden verbesserte. «Das ist schon auch eine Topleistung», sagt Fabian Blum.

Der frühere Kunstturner, der seit einem Trainingsunfall ab dem 5. Halswirbel gelähmt ist, will sich nun auf die nächste WM vorbereiten und dort Werbung in eigener Sache machen. Leise Hoffnung besteht, dass er doch noch nach Tokio kann. Sollte ein Land nicht alle Quotenplätze ausschöpfen – was unrealistisch ist – würde die Schweiz welche erben. «Dann würde ich einen kriegen, hat man mir versichert», sagt Blum.