Kommt jetzt die Individualbesteuerung? Und wer profitiert davon? Die wichtigsten Fragen und Antworten

Es heisst, dass die Mühlen in Bern langsam mahlen. Aber in dieser Frage ist das stark untertrieben. Es geht um einen brisanten Punkt im Steuersystem, nämlich um die Frage: Warum zahlen Ehepaare aufgrund der sogenannten Heiratsstrafe mehr Steuern als Konkubinatspaare? Schon 1984 hat das Bundesgericht festgestellt, dass dies eigentlich nicht korrekt ist. Schon vor 15 Jahren wollte die FDP die Individualbesteuerung einführen, um das Problem zu beheben. Passiert ist lange nichts. Jetzt geht es allerdings vorwärts. Am Montag hat der Bundesrat drei mögliche Modelle zur Individualbesteuerung vorgestellt. Bereits 2022 könnte eine Vernehmlassungsvorlage vorliegen. Um was geht es? Die wichtigsten Punkte zur Vorlage.

Was ist das Ziel einer Individualbesteuerung?

Bei einer Individualbesteuerung soll jede Person individuell besteuert werden, unabhängig von ihrem Zivilstand, ihrer Beziehungs- oder Wohnform. Das Ziel ist, damit einen Beitrag zur Gleichstellung von Frau und Mann zu leisten und den Anreiz zu erhöhen, dass beide Ehepartner arbeiten gehen. Denn Gegner des bisherigen Systems sagen: Ist beispielsweise der Mann Hauptverdiener einer Familie, lohnt es sich heute für die Frau oft gar nicht gross, arbeiten zu gehen. Denn das höhere gemeinsame Einkommen wird durch die Steuerprogression und Sozialversicherungsabgaben zu einem relevanten Teil wieder zunichte gemacht.

Das Parlament hat den Bundesrat beauftragt, Vorschläge zur Individualbesteuerung vorzulegen. Was schlägt der Bundesrat nun vor?

Der Bundesrat hat drei Modelle untersucht, die in der Schweiz zur Umsetzung kommen könnten:

  1. Reine Individualbesteuerung: Einkommen und Vermögen jeder Person werden separat erfasst. Für Einverdiener-Paare sind keine Entlastungen vorgesehen. Sie werden stärker belastet als Paare mit zwei Einkommen. Es wird auch nicht berücksichtigt, wie viele erwachsene Personen vom Einkommen leben.
  2. Modifizierte Individualbesteuerung: Paare mit ungleichen Einkommen sollen entlastet werden. Bei Paaren mit nur einem Einkommen könnte die Person mit dem höheren Einkommen zum Beispiel einen zusätzlichen Abzug erhalten.
  3. Ecoplan: Dieses Modell geht im Gegensatz zu den anderen Modellen nicht von einem Einheitstarif, sondern von einem Doppeltarif aus. Es gäbe den Grundtarif (ohne Kinder) und den Elterntarif (mit Kindern). Für Eineinkommenspaare und Alleinstehende sieht das Modell keine Massnahmen vor; das Hauptelement bei diesem Modell ist die Entlastung von Haushalten mit Kindern. Dieses Modell führt bei Personen ohne Kinder zu Mehrbelastungen.

Welche Massnahmen würden für Alleinstehende gelten?

Die reine Individualbesteuerung führt bei Alleinstehenden ohne Kinder zu einer steuerlichen Entlastung. Bei den anderen zwei Modellen kommt es für diese Personengruppe zu einer Mehrbelastung. Bei der modifizierten Individualbesteuerung sind Abzüge für Alleinstehende denkbar. So könnten jene Personen, die zum Beispiel ihre Wohnkosten allein tragen, einen sogenannten Haushaltsabzug geltend machen.

Was bedeutet die Individualbesteuerung für Ehepartner mit nur einem Einkommen?

Bei Paaren mit nur einem Einkommen käme es mit der Individualbesteuerung wohl zu einer Mehrbelastung für die Ehepartner. Bei der modifizierten Individualbesteuerung könnte die Mehrbelastung durch einen Abzug etwas abgefedert werden. Beim Ecoplan-Modell würden vor allem Ehepaare mit Kindern entlastet.

Wie sieht das weitere Vorgehen aus und kommt es jetzt zu einer Lösung?

Die Auslegeordnung geht nun an das Parlament. Dort sieht es nicht schlecht aus, auch wegen der neuen Machtverhältnisse seit 2019: GLP, FDP und auch Grüne sowie SP sind für die Individualbesteuerung. Gleichzeitig machen die FDP-Frauen Druck auf Bundesbern. Sie haben eine Initiative zum Thema lanciert. Und diese wollen sie vorderhand weiterverfolgen.

Wer bekämpft die Individualbesteuerung?

Gegnerin ist die Mitte (Ex-CVP). Auch sie will die Heiratsstrafe bei Ehepaaren aufheben, allerdings nicht mittels Individualbesteuerung. Die Partei setzt auf das Ehegattensplitting. Das heisst vereinfacht: Das Einkommen der Ehepartner wird durch zwei geteilt. Im kommenden Frühling will die Mitte dazu eine Volksinitiative lancieren. Schon 2016 kam eine CVP-Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe an die Urne, scheiterte aber vor dem Volk. Zwar hätte die Abstimmung wegen Fehlern im Abstimmungsbüchlein wiederholt werden können. Darauf aber verzichtete die CVP damals.

Warum ist die Mitte gegen die Individualbesteuerung?

Die Aargauer Mitte-Nationalrätin Marianne Binder warnt: «Die Individualbesteuerung stellt das heutige Steuersystem auf den Kopf samt enormem administrativem Aufwand.» So würde es laut der Mitte etwa im Kanton St. Gallen 130 000 zusätzliche Steuererklärungen geben. Zudem würden tendenziell reiche Doppelverdienerpaare bevorzugt, so Binder.

Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller.

Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller.

AZ

Wie unterscheiden sich Ehegattensplitting und Individualbesteuerung?

Einerseits geht es um eine Lebenseinstellung. Die FDP sagt, der Staat dürfe keine Lebensform bevorzugen. Ob jemand verheiratet oder alleinstehend sei, soll keine Rolle spielen. Beim Mitte-Modell mit dem Ehegattensplitting bliebe die Familie im Steuersystem verankerter. Gleichzeitig geht es auch um die Frage der Gleichberechtigung und der Chancengleichheit für Frauen am Arbeitsplatz. Mit dem heutigen System werde «die Rolle des Ehemannes als Versorger zementiert und insbesondere gut ausgebildete Frauen werden vom Arbeitsmarkt ferngehalten», schreibt die FDP. Die beste Lösung sieht sie in der Individualbesteuerung. Umstritten ist, ob das Ehegattensplitting gleich viele Anreize setzt wie die Individualbesteuerung, damit Frauen wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen.