«Konzernverantwortung»: Mit dieser Strategie hat Bundesrätin Keller-Sutter die Abstimmung doch noch gewonnen

Die Abstimmungsniederlage ist bitter für die Initianten: Zum ersten Mal seit 65 Jahren erreichte eine Initiative das Volksmehr, scheiterte aber am Ständemehr. Die Strategie der Gegner, die Initiative in den Deutschschweizer Landkantonen zu bekämpfen, ging voll auf.

Die Bitterkeit über das knappe Ergebnis kam auch in den Medienmitteilungen der Initianten zum Ausdruck. Die Hauptschuldige für die eigene Niederlage? Sie war schon gefunden, als die Stimmen noch nicht ausgezählt, das Resultat noch offen war.

Bundesrätin Karin Keller-Sutters Rolle sei unüblich gewesen, schrieben die Initianten in ihrem Rückblick: «Sie schreckte nicht davor zurück, Unwahrheiten zu verbreiten.» Am Nachmittag doppelten sie nach: «Die Bundesrätin hat wider besseren Wissens die irreführende Behauptung der Beweislastumkehr verbreitet.» Und Dick Marty (FDP), Co-Präsident des Initiativkomitees, sagt am Abend am Telefon: «Die Justizministerin hat Lügen verbreitet. Das ist institutionell fragwürdig.»

Karin Keller-Sutter weibelt an einer Veranstaltung in Luzern.

Karin Keller-Sutter weibelt an einer Veranstaltung in Luzern.© Dominik Wunderli (9. November 2020

Die Vorwürfe gegen Karin Keller-Sutter sind happig, und sie sind nicht neu. Während der ganzen Kampagne schossen sich die Befürworter auf die freisinnige Magistratin ein. Petra Gössi, Präsidentin der FDP, sagt, solche Angriffe gegen eine Bundesrätin habe sie noch nie erlebt: «Karin Keller-Sutter hat aufgrund ihrer Funktion die Argumente von Bundesrat und Parlament mit Engagement vertreten. Die Befürworter haben den Bogen überspannt.»

Das Engagement lohnte sich: Die FDP-Bundesrätin am Sonntag vor den Medien in Bern (mit Guy Parmelin).

Das Engagement lohnte sich: Die FDP-Bundesrätin am Sonntag vor den Medien in Bern (mit Guy Parmelin).© Keystone

Politologin: «Glaubwürdige Stimme für das Nein-Lager

Klar ist: Die Justizministerin hat eine Schlüsselrolle gespielt. Als sie 2019 ins Amt kam, übernahm sie von Simonetta Sommaruga (SP) das Dossier. Die Situation war vertrackt: Der Nationalrat wollte mit einem strengen Gegenvorschlag – inklusive einer Haftungsbestimmung – die Initianten zum Rückzug bewegen. Der Ständerat lehnte diesen ab. Keller-Sutter griff ein. Sie initiierte einen eigenen Gegenvorschlag, der im Prinzip die Regeln der EU übernahm und bei der Kinderarbeit darüber hinausging. Ihre Horrorvorstellung war, dass der Gegenvorschlag im Parlament scheitert, dass sie im Abstimmungskampf mit dem Hinweis auf nationale Aktionspläne für Wirtschaft und Menschenrechte gegen die Initiative antreten muss. Das Parlament folgte ihr, die Initianten und ihre Verbündeten tobten. Keller-Sutter gilt seither als Handlangerin von Economiesuisse & Co. 

Auch im «Swing State» Solothurn trat KKS auf, hier auf Einladung der Handelskammer. .

Auch im «Swing State» Solothurn trat KKS auf, hier auf Einladung der Handelskammer. .© BK (Olten, 26. Oktober 2020

Ihre Taktik aber funktionierte. «Der Gegenvorschlag war ausschlaggebend für das Nein», sagt FDP-Ständerat Ruedi Noser. Parteipräsidentin Gössi doppelt nach: «Mit dem Gegenvorschlag haben wir gezeigt, dass wir das Anliegen der Initiativen ernst nehmen. In der aktuellen Krise will die Bevölkerung keine Experimente.» Politologin Martina Mousson vom Forschungsinstitut GFS Bern sagt, die Sichtbarkeit des zuständigen Bundesratsmitglieds sei ein wichtiger Faktor in Abstimmungskämpfen: «Im Gegensatz zu vielen Wirtschaftsvertretern wurde sie in der Öffentlichkeit als glaubwürdige Stimme für das Nein-Lager wahrgenommen», so die Forscherin.

Einsatz bis zuletzt: Karin Keller-Sutter vergangene Woche in der Ostschweiz...

Einsatz bis zuletzt: Karin Keller-Sutter vergangene Woche in der Ostschweiz… © HO (Heerbrugg SG, 23. Nov. 2020

Und wie sieht es mit der Wahrheit aus? Die Gegner der Initiative wie auch die Justizministerin strapazierten das KMU-Argument tatsächlich. Die Initiative sah Ausnahmen für Tiefrisiko-KMU vor, der genaue Anwendungsbereich wäre Sache des Parlaments gewesen. Sprich, es ging um eine Auslegungssache.

Bei der viel zitierten «Beweislastumkehr» in Haftungsfällen ist die Sache kompliziert. Die Initianten schrieben einst selbst von Beweislastumkehr, nahmen später davon Abstand. Unter Juristen werden beide Meinungen vertreten. Über die Wahrheit verfügten weder Gegner noch Befürworter.

Ohnehin gehört die Diskussion um die Initiative und ihre Auslegung nun aber der Vergangenheit an.

Dick Marty: «Die Politik kann das Volksmehr nicht ignorieren.»

Oder etwa doch nicht? Dick Marty sagt, formaljuristisch sei die Volksinitiative zwar gescheitert, politisch könne man das Volksmehr aber nicht ignorieren: «Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist der Meinung, dass die multinationalen Konzerne für ihre Verfehlungen im Ausland geradestehen müssen», sagt der Co-Präsident des Initiativkomitees. Der ehemalige Tessiner Ständerat meint gar, das Ständemehr sei gedacht, um die Minderheiten zu schützen: «Doch dieses Thema hat die Landkantone gar nicht betroffen.» Marty folgert daraus, dass das Parlament den gescheiterten, harten Gegenvorschlag des Nationalrates wieder aufnehmen muss. Ohnehin sei die Dynamik klar: «Die Initiative wird heute nicht verwirklicht, aber morgen.»

Alt Ständerat Marty spricht damit mögliche Entwicklungen in der EU an. Die Kommission plant, nächstes Jahr neue Vorschläge zur Regulierung von Konzernen vorzulegen. Diese wird wohl allgemeine Sorgfaltspflichten enthalten, offen ist aber, ob eine Haftung vorgesehen ist.

Karin Keller-Sutter: «Gegenvorschlag als Weg der Güte»

Karin Keller-Sutter hatte im Abstimmungskampf stets betont, dass sie gegen einen Alleingang der Schweiz sei und der Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament international abgestimmt sei. SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer formuliert deshalb eine klare Erwartung an die Bundesrätin. «Ich nehme Karin Keller-Sutter beim Wort. Wenn die EU die Regeln verschärft, muss sie dem Parlament auch entsprechende Vorschläge vorlegen», sagt die Nationalrätin.

Die Bundesrätin selbst schlug an der Medienkonferenz versöhnliche Töne an. Der Bundesrat sei sich bewusst, dass viele Menschen, die sich seit Jahren für die Initiative eingesetzt hätten, nun enttäuscht seien – allen voran in der Westschweiz und in den Städten. Sie erinnerte aber auch an den Gegenvorschlag, der bald in Kraft treten kann: «All diese Menschen stehen nicht mit leeren Händen da.» Und sie erneuerte ihr Versprechen: «Der Bundesrat wird die Entwicklungen im Ausland beobachten.»

Von einem persönlichen Sieg wollte die Bundesrätin nichts wissen. Es gehe in der Schweiz nicht um Personen, sondern die Institutionen. Der Gegenvorschlag sei ein Mittelweg gewesen: «Ein Weg der Güte.»