
KVI scheitert trotz Volksmehrheit – das sagt die Expertin zur Diskussion über die Abschaffung des Ständemehrs
Mit der KVI scheitert erstmals seit der Abstimmung über den Familienartikel 2013 eine Vorlage am Ständemehr. Woran lag das?
Die KVI hat für eine untypische Mobilisierung gesorgt. Sie lässt sich nicht einfach in ein Links-Rechts-Schema einordnen. Im Kern vertrat sie zwar ein wirtschaftspolitisch linkes, interventionistisches Anliegen. Doch die Frage, wie stark Schweizer Konzerne Menschenrechte und Umweltschutz beachten sollen, bewegte über das linke Lager hinaus. Am Ende überzeugte die Initiative dadurch eine knappe Mehrheit der Bevölkerung. Die Ja-Stimmen waren geografisch jedoch sehr ungleich verteilt.
Weshalb überzeugte die KVI ausserhalb der Romandie nur gerade in den Kantonen Zürich, Bern und Basel-Stadt?
Hinter dem verpassten Ständemehr steckt ein Wertekonflikt. Bereits bei den Wahlen im Oktober 2019 und zuletzt bei den Abstimmungen im September hat man gesehen, dass für die Bevölkerung in der Westschweiz und in den städtischen Gebieten der Deutschschweiz Fragen der Ökologie und einer gerechteren Gesellschaftsordnung sehr wichtig sind. Sie mobilisieren insbesondere die Jüngeren und die Frauen. In ländlichen Gebieten findet die Forderung der Wirtschaft nach unternehmerischer Freiheit mehr Gehör.
Beim letzten Abstimmungssonntag im September gingen 59 Prozent an die Urne, gestern nur 47 Prozent. Wie beeinflusste das den Ausgang?
Darüber kann man nur spekulieren. Der «Super Sunday» am 27. September mit fünf Vorlagen lockte überdurchschnittlich viele Menschen in den Städten an die Urne. Der Themen-Mix half dem links-grünen Lager: Mit Ausnahme der Kampfjet-Abstimmung gingen alle Vorlagen in ihrem Sinne aus. Dieses Mal scheint der Unterschied zwischen Stadt und Land bei der Stimmbeteiligung kleiner zu sein. Das half wohl dem Nein-Lager.
Für die Juso gehört das Ständemehr auf den «Müllhaufen der Geschichte». Politiker von Grünen und SP wollen ebenfalls über eine Reform diskutieren. Zu Recht?
Die KVI ist erst die zehnte Abstimmung seit der Gründung des Bundesstaats 1848, bei der eine Volksmehrheit von den Ständen überstimmt wird. Konflikte zwischen der demokratischen und der föderalistischen Hürde bei Volksabstimmungen sind sehr selten. Aber sollten die kleinen Deutschschweizer Kantone in nächster Zeit wiederholt Vorlagen zu Fall bringen, welche eine Mehrheit der Bevölkerung in der Romandie und den grossen Städten befürwortet, gewinnt die Diskussion über ein Ende des Ständemehrs an Fahrt.
Dies war bereits 2013 beim gescheiterten Familienartikel der Fall.
Richtig. Doch irgendwann schlief die Debatte wieder ein. Einerseits ist Rücksichtnahme auf Minderheiten in der Schweiz stark verankert. Andererseits ist die Hürde für eine Abschaffung des Ständemehrs sehr hoch. Es bräuchte eine Verfassungsänderung – und dafür braucht es das Ständemehr.