Max Schärer: «Mir scheint, wir grenzen in Murgenthal manchmal an vier Kantone»

Herr Schärer, Sie wurden 1993 zum Gemeindeammann gewählt und sind seit dem 1. Januar 1994 im Amt. Was war das Beste daran in den vergangenen 27 Jahren?

Die Kontakte mit den Menschen, mit den Murgenthalerinnen und Murgen- thalern. Da gab und gibt es immer wieder sehr schöne Begegnungen.

Und was war eher schwierig?

Vielleicht ist es fast die gleiche Antwort wie bei Ihrer ersten Frage. Es gibt auch immer wieder Kontakte, die nicht so gut verlaufen. Früher musste ich bei Fällen von häuslicher Gewalt ausrücken. Das muss ich zum Glück heute nicht mehr. Aber ich bin jemand, der das weniger Schöne relativ schnell ad acta legen kann und sich an das hält, was Freude macht.

Das hilft, wenn man Gemeindeammann ist.

Definitiv. Sonst könnte ich es gar nicht machen.

Jetzt kommt die Frage, die sich viele stellen: Kandidieren Sie 2021 nochmals?

Das werde ich rechtzeitig kommunizieren.

Haben Sie eigentlich nie damit geliebäugelt, für den Grossen Rat zu kandidieren?

(wie aus der Pistole geschossen) Nein. Ich wurde rund ein halbes Dutzend Mal angefragt. Aber schauen Sie: In der Gemeinde geht es um Menschen und um Sachgeschäfte. Im Grossen Rat geht’s um Politik. Wenn Sie unseren Gemeinderatssitzungen beiwohnen würden, würden Sie möglicherweise lange nicht herausfinden, wer welche Partei vertritt. In der Gemeinde sollte es ja auch nicht um Parteipolitik gehen. Sie spielt eine Rolle bei den Wahlen, klar. Aber im Wesentlichen soll es in einem Gemeinderat um Sachgeschäfte gehen.

Im Gespräch mit Gemeindeammännern kommt immer wieder ein Punkt zur Sprache: Das partizipatorische Element ist auf dem Rückzug, die Konsumhaltung dagegen nimmt zu. Sie können das besonders gut beurteilen.

Natürlich, das ist so. Oft stellen wir eine ausgeprägte Betroffenheitspolitik fest. Nach dem Motto: Wenn mich ein Geschäft besonders betrifft, gehe ich an die Gemeindeversammlung – sonst nicht. Viele Menschen leben einfach in Murgenthal, bringen sich aber wenig ein. Die Haltung, die Sie erwähnten, nimmt leider zu. Ich habe schon bei vielen Jungbürgerfeiern oder bei der Rekrutierung von Feuerwehrleuten sinngemäss John F. Kennedy zitiert …

… den US-Präsidenten, der 1963 ermordet wurde.

Ja. Er sagte sinngemäss: Fragt nicht immer, wo ihr vom Staat – also vom Bund, Kanton und der Gemeinde – profitieren könnt. Sondern fragt auch mal: Wo kann ich dem Staat etwas geben? Wo kann ich etwas leisten? Meine Ermunterung zielt vor allem auf das Engagement in der Gemeinde ab.

Schauen wir ein bisschen nach vorn. Was sind die grossenBrocken, die anstehen?

Als Erstes muss ich auf die momentane Situation mit Corona eingehen. Wir haben vor einigen Wochen für die Gemeindeversammlung den Leiter Finanzen zum ausserordentlichen Stellvertreter des Gemeindeschreibers ernannt, weil sowohl der Gemeindeschreiber als auch die Stellvertreterin in Quarantäne waren. Zum Glück blieb es dabei. Wir hatten vorletzte Woche im Gemeindehaus den ersten Fall einer Mitarbeiterin, die positiv getestet wurde. Die Pandemie kommt immer näher, und sie wird uns wohl noch einige Zeit beschäftigen.

Ein Dauerbrenner sind die Finanzen.

Im Jahr 2020 sind wir gut unterwegs, auch dank einigen Sondereffekten. Aber ja, die Finanzen werden alle Gemeinden stark beschäftigen. Es ist noch nicht abschätzbar, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Steuereinnahmen haben wird.

Ein weiteres wichtiges Projekt ist die laufende Baulanderschliessung «Weid Neustadt».

Ja, vor zwei Jahren wurde an der Gemeindeversammlung der Kredit bewilligt. Zurzeit läuft die zweite Etappe des Strassenausbaus, im Januar wird die dritte von insgesamt fünf Etappen in Angriff genommen. Zurzeit läuft der Verkauf der Parzellen. Auch die Gemeinde besitzt dort Land. Wir haben bereits Anfragen und wir sind in Verhandlungen.

Murgenthal wächst.

Ja. Was uns immer wieder beschäftigt, ist die Grösse der Gemeinde, rein flächenmässig. Wir gehören mit 1862 Hektaren zu den grössten Gemeinden im Kanton. 42 Kilometer Gemeindestrassen verbinden die fünf Ortsteile mit- und untereinander. Die Ansprüche der verschiedenen Ortsteile unter einen Hut zu bringen, ist manchmal gar nicht so einfach.

Wie sieht es auf dem Hintergrund des Wachstums in den kommenden Jahren mit der Schulinfrastruktur aus?

Das bleibt ein Thema. Wir verfügen in der Gemeinde über drei Schulstandorte. In der Talsohle für die 4., 5. und 6. Klasse, in Riken und Glashütten je einen Standort für den Kindergarten sowie die 1., 2. und 3. Klasse. Wenn ich sehe, wie viele Kinder schon jetzt in den neu gebauten Häusern in Riken leben, werden wir mit den Schulräumen wohl bald über die Bücher müssen. Wir haben dieses Jahr das Kirchgemeindehaus Riken übernommen, das bis dahin zur Hälfte der Kirchgemeinde und zur Hälfte der Einwohnergemeinde gehörte. Ob es hier Möglichkeiten für Schulräume gibt, wird man sicher prüfen müssen.

Schlagzeilen haben Beizen gemacht, die schliessen.

Ja, im Januar schliesst der «Löwen» in Glashütten. Der Wirt erreicht das Pensionsalter. Die «Friedau» schloss vor einem Jahr.

Zwei Beizen zu, die Post zügelt in den Denner. Alles in allem ein Attraktivitätsverlust?

Dass Restaurants schliessen, ist klar ein Attraktivitätsverlust. Es sind aber freie unternehmerische Entscheide der Eigentümer. Als Gemeinde können wir nicht eine weitere Abteilung eröffnen, die ein Restaurant betreibt. Dass die Post ihre Filiale nicht mehr selber betreibt, sehen wir sicher nicht gern. Wir haben uns deshalb auch rund drei Jahre dagegen gewehrt. Auch bei der Post handelt sich um einen unternehmerischen Entscheid, die Menschen und der Service Public scheinen ihr mehr oder weniger egal zu sein. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass der Briefverkehr geschrumpft ist. Wie viele Briefe schreiben Sie pro Jahr noch?

Ein paar.

Genau. Alles andere geht per Mail. Wie viele Leute machen ihre Einzahlungen noch mit dem Postbüchlein am Schalter?

Immer weniger.

Richtig. Dieser Prozess ist unaufhaltsam, und das Rad der Zeit kann man nicht zurückdrehen.

Ein grosser Brocken ist auch die neue Zonenplanung, die ansteht.

Ja, diese nehmen wir 2021 in Angriff. Ich war dabei, als wir die letzte Zonenplanung umgesetzt haben, die im Jahr 2000 in Kraft trat. Üblicherweise geht man von einem Planungshorizont von 15 Jahren aus, den haben wir also etwas überschritten. Das wird auch nicht in ein paar Monaten abgehandelt sein. Ein Stichwort ist wie überall das verdichtete Bauen. Wir werden sicher kein Bauland mehr einzonen können, da sind die Reserven jetzt da.

Was jedermann sehen wird: Murgenthal bekommt eine neue Strassenbeleuchtung.

Ja, an der letzten Gemeindeversammlung wurde der entsprechende Kredit gutgeheissen. Wir stellen die ganze Gemeinde auf einen Schlag auf LED-Beleuchtung um. Was einiges kostet, aber in rund zehn Jahren wird dies aufgrund der Stromeinsparungen amortisiert sein. Die Kandelaber können wir stehen lassen. Wir werden auch gegen die Lichtverschmutzung etwas tun können. Jede Lampe wird – vereinfacht gesagt – über einen Bewegungsmelder verfügen. Wenn es auf der Strasse ruhig ist, dimmt die Lampe auf rund zehn Prozent ihrer Leistung herunter – wenn ein Auto kommt, merken dies die Lampen und schalten ein.

2030 laufen die Konzessionen für die beiden Quellen, von denen Murgenthal das Trinkwasser bezieht, aus. Bereits jetzt werden neue Möglichkeiten gesucht. Warum so früh?

Wasser ist so elementar wichtig, dass wir überzeugt sind, dass wir das frühzeitig angehen müssen. Wir haben eigene Quellen, die aber nicht auf unserem Gemeindegebiet liegen, sondern im benachbarten Roggwil. Wir sind die einzige Aargauer Gemeinde, die das Wasser aus dem Kanton Bern bezieht und ihr Abwasser wieder dem Kanton Bern zurückgibt. Auch den Strom beziehen wir aus dem Kanton Bern. Im Raum steht, dass sich die Gemeinde Roggwil, mit der wir die Quelle gemeinsam nutzen, anders orientiert. Wir würden also die Quelle alleine nutzen. Hier müssen viele rechtliche und finanzielle Aspekte geklärt werden. Deshalb kümmern wir uns schon jetzt darum.

Wir stehen bald am Jahresende. Was wünschen Sie sich – für sich?

Dass ich verschont bleibe von Covid-19 und ein paar ruhige Tage über Weihnachten/Neujahr habe.

Und für die Murgenthalerinnen und Murgenthaler?

Zunächst das Gleiche wir für mich: Dass sie von Corona verschont bleiben. Dass sie trotz weiterer Einschränkungen, die vermutlich kommen werden, die Festtage geniessen können. Und dass unsere spezielle Grenzlage uns nicht zum Nachteil gereicht. Murgenthal grenzt ja an drei Kantone: Bern, Luzern und Solothurn. Manchmal habe ich aber das Gefühl, wir haben noch eine Grenze zu einem vierten Kanton, nämlich zum Aargau. Wir sind sehr weit weg von Aarau und müssen dort manchmal in Erinnerung rufen, dass wir sehr wohl zum Kanton Aargau gehören.

Und zu guter Letzt: Was wünschen Sie sich von den Menschen in Murgenthal?

Dass sie am politischen Prozess auch dann teilnehmen, wenn sie nicht direkt betroffen sind.