
Mit der Schrotflinte gegen das Virus: Forschung sucht beinahe panisch nach Coronamedikament
Es ist ein enormer Kraftakt. Seit Januar wurden über 1200 klinische Studien gestartet, um ein Medikament zur Behandlung von Coronapatienten zu finden. So manche Pharmafirmen lobten sich gar gegenseitig, dabei an einem Strick zu ziehen. Eine Untersuchung kommt nun jedoch zum Schluss, dass das Unterfangen von Chaos und Panik getrieben ist.
Oft seien die klinischen Studien zu klein gewesen, um belastbare Daten zu erheben oder hätten zu stark auf ein einziges Medikament fokussiert. So wurden 39 Prozent der Studien mit weniger als 100 Patienten durchgeführt, wie die Analyse des US-Branchenportals «Stat» in Zusammenarbeit mit der US-Organisation Applied XL zeigt. «Es ist eine enorme Menge an vergeudetem Aufwand und Energie», sagt der renommierte Forscher Martin Landray von der britischen Universität Oxford dazu. Dagegen hätte etwas mehr Koordination und Zusammenarbeit viel gebracht, um offene Fragen zu beantworten.
Rund jede sechste klinische Studie untersuchte laut der Analyse das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin. Das Mittel hat sich inzwischen jedoch als nicht wirksam erwiesen. So zeigte eine grössere britische Studie, dass das Präparat das Sterberisiko von hospitalisierten Coronapatienten nicht reduziert. Eine kürzlich veröffentlichte Analyse des Universitätsspital Basel offenbarte, dass die Konzentration des Medikaments nicht ausreicht, um das Virus zu bekämpfen.
Das Medikament Hydroxychloroquin wurde nicht zuletzt von Donald Trump zeitweise regelrecht gehypt. Im Mai sagte der US-Präsident, er habe das Mittel vorbeugend eingenommen, obwohl von einer prophylaktischen Wirkung nie die Rede war. Vor einem Monat hat die US-Gesundheitsbehörde FDA die anfängliche Notfallzulassung für das Mittel zurückgezogen. Kurz darauf kündigte der Pharmakonzern Novartis an, seine Studie mit dem Medikament abzubrechen. Die Basler begründeten den Schritt damit, dass ein Mangel an Patienten den Abschluss der Studie unmöglich gemacht habe. Ursprünglich hätten 440 Patienten getestet werden sollen.
Nicht einfach alles testen, was verfügbar ist
Die Frage stellt sich, ob nicht zumindest ein Teil der Ressourcen für andere Medikamente hätte eingesetzt werden müssen. So nahmen ganze 237’000 Patienten an klinischen Studien für Hydroxychloroquin teil. Diese Patienten fehlen für andere Studien. Dies wiegt schwer, da es in der Regel schwierig ist, Patienten zu überzeugen, an klinischen Studien teilzunehmen.
Die ehemalige Roche-Managerin Susan Desmond-Hellmann bezeichnet die Entwicklung als exzessiv. Bei der Suche eines Impfstoffs seien die Forscher methodischer vorangegangen. Sie wünsche sich das auch für die Coronamedikamente, sagte die Amerikanerin, die bis vor kurzem Chefin der Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung war. Man solle nicht einfach alles testen, was an Arzneimitteln verfügbar sei.
Manuel Battegay ist Chefarzt Infektiologie und Spitalhygiene am Universitätsspital Basel
© Kenneth Nars / BLZ
Eine differenziertere Sicht nimmt Manuel Battegay ein. Er ist Chefarzt Infektiologie und Spitalhygiene am Universitätsspital Basel und Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes. «Gerade zu Beginn des Corona-Ausbruchs befanden wir uns in einer Extremsituation», sagt Battegay. Da liege es in der Natur der Sache, dass der experimentelle Einsatz von Medikamenten und dessen Erforschung etwas chaotisch erscheine. Jedoch müssten ethische Aspekte bewusst und ständig abgewägt werden.
Nutzen und Risiken sorgfältig abwägen
Am Unispital Basel hätten die behandelnden Ärzte die eingesetzten Therapien fast täglich besprochen. Gerade bei Medikamenten, die für eine Krankheit noch nicht zugelassen sind, wie dies bei Corona der Fall ist, müsse man die Risiken und den Nutzen für die Patienten sorgfältig abwägen, sagt Battegay.
«In der Schweiz wurden prinzipiell nur bei hospitalisierten Patienten mit schwerem Verlauf versuchsweise Medikamente eingesetzt», sagt Battegay. Dabei seien die Betroffenen bezüglich gefährlicher Nebenwirkungen eng überwacht worden. Jedoch habe die heterogene Patientenpopulation, etwa bedingt durch diverse Vorerkrankungen eines Patienten oder andere Komplikationen, die Einschätzung der Wirkung erschwert.
Was das Medikament Hydroxychloroquin anbelange, so habe sich relativ rasch gezeigt, dass sich bei den Patienten keine sofort ersichtliche Wirkung eingestellt habe. Grössere Studien hätten diesen Verdacht bestätigt. «Historisch gesehen, etwa im Vergleich zur Entwicklung von HIV-Medikamenten, konnten wir relativ rasch belegen, dass das Mittel nicht wirkt», sagt Battegay. Warum die Forschung weltweit so stark auf Hydroxychloroquin fokussiert war, kann er sich nicht erklären.
Erschwerend hinzu komme, dass sich die Situation in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich präsentiere und damit schwer vergleichbar sei. Er nennt als Beispiel das Medikament Dexamethason. Eine britische Studie zeigte, dass das Mittel die Sterblichkeit von künstlich beatmeten Patienten um 35 Prozent reduziert. In Grossbritannien sei jedoch die Sterblichkeit von Coronapatienten, die sich im Spital befinden, insgesamt dreimal höher als in der Schweiz, sagt Battegay. Daher stelle sich die Frage, ob Schweizer Patienten im gleichen Ausmass profitieren würden wie in Grossbritannien.
Zu rasche Kommunikation der Resultate
Letztlich gehe es um eine schwierige Abwägung. «Wartet man in einer Notsituation wie Corona jeweils ab, bis schlüssige Studien zu einem Medikament vorliegen, hält man möglicherweise wirksame Therapien zurück», sagt Battegay. Das sei gerade bei den schwerstbetroffenen Patienten problematisch.
Doch auch Battegay übt Kritik an den internationalen Forschungsbemühungen in Sachen Corona. Es seien tatsächlich zu viel Studien mit nur wenigen Patienten durchgeführt worden. Zudem sei es wiederholt vorgekommen, dass Forschungsresultate per Medienmitteilung veröffentlicht wurden, obwohl die Details der Studie teils während Wochen nicht vorlagen.