
«Naked Truth» über den «Naked Chef»: Was ist dran an den Pleite-Gerüchten um Jamie Oliver?
Am Ende wird Jamie Oliver sein, was er am Anfang war, ein «Naked Chef». Nackt und bloss und nur von einer Flasche Olivenöl und ein paar sonnengereiften Tomaten voll von der ganzen Süsse Italiens begleitet. Und von einer Frau, 5 Kindern (so viele sind bis jetzt bekannt), zwei Villen und einem Privatvermögen von 150 Millionen Pfund. Gewonnen aus Kochbüchern, Kochshows, Restaurants und der Kinderkleiderlinie der Gattin.
Aus Restaurants? Von den über 40 Lokalen, die er betreibt, sollen 12 geschlossen werden, sie gehören alle zur Linie Jamie’s Italian. Bis jetzt gibt es davon in Grossbritannien 35, demnächst also «nur» noch 23. Ebenfalls bestehen bleiben 2 Barbecoa, 3 Diners und dem Fifteen in London. Das Fifteen in Amsterdam musste bereits im November 2016 geschlossen werden.
Von über 70 Millionen Pfund (über 90 Millionen Franken) Schulden ist die Rede, 450 Angestellte verlieren ihren Job. Damit die restlichen 1800 Stellen gerettet werden können, verpflichten sich ein paar der Vermieter zu einer Mietpreisreduktion von 30 Prozent.
In guten Jahren machte Jamie Oliver mit all seinen Unternehmen locker 90 Millionen Pfund Gewinn pro Jahr. Was ist geschehen? Zieht die Marke Jamie nicht mehr? Oder anders: Wie konnte es überhaupt geschehen, dass der Fernsehkoch für schlichte Gerichte ein Imperium mit rund 5000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gründete und bereits wenige Jahre nach seinem Start 1999 zu den reichsten Briten unter 30 zählte?
Es ist ja nicht so, dass Jamie hinter einem Fernseh-Herd zur Welt gekommen wäre. Begonnen hat er als Kind einer Beizerfamilie in Essex, wo seine Eltern Trevor und Sally noch heute das Gasthaus The Cricketers führen. Dort lernte er kochen. Sein erster Job war Dessertkoch bei der italienischen Legende Antonio Carluccio.
1997, mit 22 Jahren, war er Souschef im River Café, wo die BBC ein Weihnachtsessen filmte. Und so angetan war von dem jungen blonden Showtalent, dass sie ihm sofort eine eigene Kochshow schenkte: «The Naked Chef» war geboren. Gestrippt wurde aber nicht von Jamie, sondern höchstens mal von einer geschälten Gurke, es ging dabei ja auch um die reinen, puren Zutaten, wie Mutter Natur sie im Angebot hatte. Um Orgasmen angesichts frischer Kräuter, Salatblätter und Fleischteile.
Zuerst waren die Briten begeistert. Das «Naked Chef»-Kochbuch stand sofort zuoberst auf der Bestsellerliste. Es rettete auch bei uns unzählige WG-, Single- und allgemein Amateur-Küchen der Nullerjahre. Seine Rezepte begannen mit einem Gang auf den Markt und hörten mit Freunden bei Tisch auf. Kochen war Kommunikation, förderte das Community-Feeling und glich bei Jamie eher einer Fitness- als einer Haushaltlektion.
Alles war frisch, «vibrant», «succulent» und «juicy» und machte grundsätzlich Spass. Er sensibilisierte mindestens zwei Generationen als erster für künftige Strömungen wie «Terroir», «Nose to Tail» und den ganzen Hipsterküchenkram. Nicht, dass er dort heute eine massgebende Figur wäre, dazu ist er zu Mainstream, zu simpel auch im Auftreten.
Die Supermarktkette Sainsbury’s buchte ihn Ende der Neunziger als Werbegesicht für 2 Millionen Pfund im Jahr. Ein Deal, der 11 Jahre dauern sollte. Aber Jamies Beliebtheit brach ein. 2001 wurde die dritte und letzte Staffel von «Naked Chef» ausgestrahlt, die Presse war böse, das Publikum fand, dass Jamies Entscheide nur noch von Geldgier und nicht von einer Mission getragen wurden.
Jamie suchte Zuflucht bei Tessa Graham, einer Brand Managerin, die schon vielen kleinen Unternehmen zu grossem Erfolg verholfen hatte. Mit einem Team machte sie sich dahinter, «eine langfristige Strategie zu entwickeln die zu seiner Persönlichkeit passt. Wir entschieden uns, herauszufinden, wer Jamie wirklich war und nicht, was die andern in ihm sehen wollten», schreibt sie im Artikel «The Fall & Rise of Jamie Oliver».
Und so wurde aus Jamie Oliver der gute Mensch von England. Er bot in seinem Fifteen jungen Menschen mit sozialen Problemen die Möglichkeit eines Berufseinstiegs. Er engagierte sich für eine Verbesserung der desolaten englischen Schulkantinen. Er zeigte faulen Menschen in der Provinz, dass in ihrem Garten nicht nur Konservendosen, sondern tolle Gemüse wachsen. Und alles vor der Kamera. Und mit Gefühl. Oft verzweifelte er angesichts der Unbelehrbaren, oft gab er sich demütig gegenüber von Koriphäen lokaler Spezialitäten, und immer, immer wurde er komplett euphorisch, wenn er sich was Gutes in den Mund steckte.
In den 6 Jahren und 2 Monaten, die Tessa Graham für ihn arbeitete, wurde aus einem Mann mit einem halben Angestellten der Boss der Jamie Oliver Group of Companies und von 5000 Angestellten. Zur Gruppe gehörten 14 Subunternehmen, darunter eine TV-Produktionsfirma, ein Designbüro (irgendwer muss die ganzen Küchengeräte und Gewürzmischungen für Ketten wie Coop und Karstadt ja entwerfen) und eine Talentagentur.
Der 42-Jährige hat bis heute 28 verschiedene TV-Formate mit sich selbst als Protagonist realisiert – einige scheiterten, die Amerikaner etwa wollten sich partout nicht vom britischen Teig in ihre Burger reden lassen. Andere, etwa «Jamie’s Great Italian Escape» waren ein Hit, zumal die Italiengeschichte geschickt mit einer Ehekrise verwoben wurde.
Seine Programme wurden in 26 Sprachen synchronisiert und in 52 Länder exportiert. Mit seinen Kochbüchern, die sich zu Hunderttausenden verkaufen, ist er seit Jahren der erfolgreichste Sachbuchautor, den Grossbritannien jemals hervorgebracht hat. Ironischerweise, obwohl er selbst an einer Lese-Schreibschwäche leidet und erst mit 38 Jahren sein erstes ganzes Buch las (eins aus der «Hunger Games»-Reihe). Sein Pendant auf dem Olymp der Fiction-Verkäufe? Natürlich J.K. Rowling.
Dafür, dass seine Restaurants schlechter laufen, macht er unter anderem den Brexit verantwortlich. Dieser setzt der britischen Gastroszene allgemein sehr zu. Und gerade im Fall von Jamie Oliver werden sich heute wohl viele Fans fragen, wieso sie in einem Restaurant für etwas nicht wenig Geld ausgeben sollen, wenn sie es doch zuhause viel günstiger und einigermassen zeitsparend selbst zubereiten könnten.
Seine Bücher tragen ja nicht umsonst Titel wie «Jamie’s 30-Minute Meals», «Jamie’s 15-Minute Meals» oder «5 Ingredients – Quick & Easy Food». Schnell und simpel. Und die Foodies, die gern einmal im Monat viel Geld für 27 speziell raffiniert gefüllte Schälchen und Tellerchen ausgeben, die sind eh nicht seine Kundschaft.
Dass er jetzt 450 Leute entlassen muss, dürfte angesichts des sorgfältig designten Images als guter Bub Britanniens etwas schmerzen. Aber Jamie Oliver selbst, dem geht’s fucking blendend.
Simone Meier / AZ