
Neue Dokumente zeigen das Geheimnis hinter dem Sonderweg in der Coronakrise
Kinder spielen im Kindergarten, Erwachsene geniessen den Frühling in den Stockholmer Cafés. Bilder, die im Rest Europas Eifersucht weckten. Schweden macht es anders. Besser, meinen viele, auch in der Schweiz. Doch warum geht Schweden diesen Weg?
Eine mögliche Antwort lässt sich in der südwestlichen Grossstadtregion Malmö finden. Im Jahr 2010 wurde dort eine gross angelegte Übung durchgespielt. Simuliert wurde eine Grippe-Epidemie. Die gewonnenen Daten wurden über Jahre hinweg ausgewertet.
Nach der Schweinegrippe 2009 haben die Sicherheitsverantwortlichen des Grossraums Malmö mit rund 740000 Einwohnern eine Risikoanalyse in Auftrag gegeben. Unter der Leitung von Professor Göran Bengtsson liessen die Forscher errechnen, wie eine Influenza-Epidemie die Region treffen würde und welche Schutzmassnamen wirklich effektiv sind. Was bringen Schulschliessungen? Welchen Effekt haben Bewegungseinschränkungen? Auf diese Fragen sollten Antworten gefunden werden.
Schon damals in wichtiger Funktion: Anders Tegnell
Die Zeitung «Sydsvenskan» hatte als erste über die Simulation berichtet. Als erster ausländischer Zeitung liegen der «Schweiz am Wochenende» nun zwei Berichte aus der Übung vor. Demnach wurde damals auch umstrittenes Datenmaterial verwendet; Informationen über die Einwohner wie Arbeitsort und Grösse der Firma, wie viele Kinder sie haben und wo diese zur Schule gehen. Zusammen mit den Risikoanalysten verfasste ein gewisser Anders Tegnell – heute das schwedische Gesicht im Kampf gegen Corona – 2013 den Bericht «Simulation einer Pandemie in der Grossstadtregion Malmö».
Professor Göran Bengtsson ist einer der Hauptverantwortlichen für die Studie. Gegenüber dieser Zeitung sagt er: «Die Arbeit von vor zehn Jahren bildet in den Entscheidungen von Anders Tegnell heute sicher ein wichtiges Puzzleteil». Der Tegnell-Report von vor sieben Jahren mit dem Untertitel «Analyse von Effekten des Social Distancing unter einer Influenza-Pandemie in einer Grosstadtregion» sah laut Bengtsson die Kinder noch in einer anderen Rolle. «Damals haben die Kinder in der Simulation eine wichtige Rolle in der Übertragung der Grippe gespielt und trotzdem kam man zur Schlussfolgerung, dass Schulschliessungen nur einen sehr geringen Effekt haben». Laut Bengtsson weniger als zehn Prozent. Die Schulen blieben in Schweden bekanntlich offen.
Aussagen von damals auf Corona anwendbar
Ebenfalls mit an Bord bei der Simulation war die heutige Leiterin der Analyseabteilung im Volksgesundheitsamt, Lisa Brouwers. Sie sagte zur Zeitung «Sydsvenskan»: «Gewisse Aussagen aus den Studien von 2010 sind heute rund um den Covid-19-Ausbruch anwendbar.»
Schweden bereitete den eigenen Sonderweg also offenbar von langer Hand vor. Dazu kommt laut Göran Bengtsson, dass Schweden sehr auf wissenschaftlichen Fakten basierend agiert. Kommt hinzu: «Hier in Schweden können die Behörden viel mehr steuern als in andern europäischen Ländern.»
Dass Schweden die Coronapandemie deswegen besser meistert als andere Länder, glauben die damals involvierten Experten trotzdem nicht. «Das halte ich für zu hoch gegriffen», sagt Bengtsson. Und Lisa Brouwers fügt auf Anfrage hinzu: «Heute ist die Unsicherheit in den Modellen viel grösser. Man weiss zu wenig über Corona.»
Psychische Folgen von Schulschliessungen
Zu den unmittelbaren Folgen der Pandemie kommt indes ein weiterer Punkt hinzu, den es bei der Bewertung des schwedischen Modells zu berücksichtigen gilt. Die federführende Behörde in Schweden heisst «Volksgesundheitsamt». Bei allen Massnahmen hatte die Behörde immer die gesamte Volksgesundheit vor Augen. So sind laut Brouwers die psychischen Folgen einer Schulschliessung nicht zu unterschätzen. Die schwedische Behörde hat demnach bei ihren Entscheidungen abgewogen, wie lange die Bevölkerung eine Massnahme durchzuhalten im Stande ist.
Auffallend ist allerdings auch: Trotz der möglicherweise besseren Vorarbeit im Vergleich zu anderen Ländern, ist es in Schweden nicht gelungen, die besonders gefährdeten Menschen in den Alters- und Pflegeheimen ausreichend zu schützen. Vielerorts fehlte es an Schutzausrüstung und Personal. Die Todeszahlen sind hoch.