Neue Lage wegen Delta-Variante: Superspreader waren die Ausnahme, jetzt sind sie die Regel

In Windeseile hat sich die Virusmutation Delta auch in der Schweiz verbreitet und die Infektionskurve wieder ansteigen lassen. In nur zwei Monaten wurde die Variante dominant, ihr Anteil liegt nun bei 90 Prozent. «Delta» hat eine rund doppelt so hohe Infektiosität wie der ursprüngliche Wildtyp. Daher reichen für die Ungeimpften die bisherigen Sicherheitsregeln nicht mehr.

1. Wie viel gefährlicher ist Delta?

Eine noch nicht begutachtete Studie aus Kanada kommt zum Schluss, dass bei einer Infektion mit Delta das Risiko für eine Spitaleinweisung mehr als doppelt so hoch (+120 Prozent) ist gegenüber der Ursprungsvariante. Und fast viermal so hoch bezüglich einer Einweisung auf die Intensivstation. Mehr als doppelt so hoch ist auch das Sterberisiko (+137 Prozent). Richard Neher von der Covid-Taskforce gibt zu bedenken, dass man noch weitere Studien abwarten muss: «Die Datenbasis hängt auch von der Altersstruktur der Fälle und der Anzahl Geimpfter im Land ab.» Bei der Studie aus Kanada waren die 5600 mit Delta Infizierten grossmehrheitlich unter 60 Jahre alt. Das verheisst nichts Gutes für ungeimpfte Senioren, ihr Risiko eines schweren Verlaufes nach einer Infektion mit Delta könnte noch höher liegen.

2. Was heisst das für ungeimpfte Erwachsene?

Selbst Räume, wo man sich nur kurz aufhält, können nun Ansteckungsorte sein. In China haben sich 71 Leute in einem Lift angesteckt: Die Atemwolke einer symptomlosen, infizierten Frau verweilte über Stunden im Lift. Sie hatte mit keinem Nachbarn direkten Kontakt. Nicht bekannt ist, ob sie im Lift eine Maske getragen hat. Bisher waren relativ wenige sehr ansteckend. Aber Aerosolexperte Michael Riediker sagt, darauf könne man sich nicht mehr verlassen: «Man muss jetzt grundsätzlich mit einem Superspreader rechnen.» Das heisst, dass viel mehr oder sogar die meisten Infizierten die höchste Virenlast haben. Dies, weil es die Delta-Mutation besser schafft, in die Zellen einzudringen, und dem Körper weniger Zeit bleibt zu reagieren.

3. Schützen Masken überhaupt noch?

Masken seien jetzt sogar noch wichtiger, sagt Riediker. «Auch für Geimpfte, denn der Impfschutz ist nicht total.» Er kenne ausserdem drei Personen, die sich wegen Allergien noch nicht impfen lassen konnten. Auch diese gelte es zu schützen. Dass sich manche noch immer nicht haben impfen lassen, versteht Riediker nicht. «Es erinnert mich stark an die Einführung der Gurtentragpflicht, wo sich auch einige Kreise in ihrer körperlichen Freiheit beschnitten fühlten.» Und das Maskentragen sei in dieser Analogie ein vernünftiger Fahrstil.

4. Wie hoch ist das Risiko in gut gelüfteten Konzert­sälen für geimpfte Senioren?

Michael Riediker hat die Verbreitung der Aerosole in Theatern und Konzertsälen gemessen. Er sagt, da er stets mit Superspreadern und gefährdeten immunsupprimierten Leuten gerechnet habe, seien die Modelle nach wie vor gültig: «Die Ansteckungsgefahr in einem gut gelüfteten Konzertzahl, wo alle Masken tragen, ist sehr gering.» Aber das Foyer, wo man zu einem Glas Wein die Maske abziehe, sei gefährlich geworden. Ebenso der Aufenthalt ohne Maske in Restaurants – oder Sitzungszimmer.

5. Wie kommt es, dass 40% der Coronapatienten in England Geimpfte sind?

Die Aussagekraft dieser Zahl ist gering, da unbekannt ist, wie viele der Betroffenen vollständig geimpft sind und wie viele erst eine von zwei Dosen erhalten haben. Gerade bei der Delta-Variante ist der Schutz bei unvollständiger Impfung klein. Es ist davon auszugehen, dass unter den erwähnten 40 Prozent viele erst partiell geimpft sind. Zudem bleiben die Risikopersonen, die nun grösstenteils geimpft sind, auch mit der Impfung für eine Hospitalisation anfälliger als gesunde, junge Ungeimpfte. Ungeimpft würden aber sehr viel mehr ins Spital eingeliefert werden oder sogar sterben. Richard Neher von der Taskforce sagt: «Die Impfung reduziert die Sterblichkeit um mehr als den Faktor 10, und dieser Schutz besteht für alle bislang bekannten Varianten.» Eine Erhöhung der Impfquote, vor allem in den Risikogruppen, sei daher sehr wichtig.

6. Dennoch erkranken immer mehr vollständig Geimpfte. Warum?

Der Anteil Geimpfter unter den Erkrankten nimmt zu, weil ein immer grösserer Teil der Bevölkerung geimpft ist. Ein Rechenbeispiel: Angenommen, an einem Festival sind von tausend Besuchenden drei Viertel vollständig geimpft, die Impfung hat eine Wirksamkeit von 68 Prozent. Im Publikum ist ein Superspreader. Die Hälfte der Ungeimpften steckt sich an, das sind 125 Personen. Bei den Geimpften werden 68 Prozent geschützt, es infizieren sich 120 Geimpfte – also in absoluten Zahlen fast gleich viele wie bei den Ungeimpften. Wäre niemand geimpft gewesen, hätten sich 500 Menschen angesteckt, also mehr als doppelt so viele.

7. Schützt Moderna besser als Pfizer/Biontech?

Vermutlich. Der «Tages-Anzeiger» fand fünf Studien, die dies belegen. Laut der englischen Gesundheitsbehörde etwa schützt Moderna 40-Jährige gegenüber Delta 10 Prozent besser vor einer Erkrankung mit Symptomen. Zwei Studien zeigten, dass nach einer Moderna-Impfung leicht mehr Antikörper im Blut zu finden sind.

8. Was bedeutet Delta für die Kinder?

Wenn die Infektionszahlen weiter rasch ansteigen, wirkt sich das auch auf die ungeimpften Kinder aus. Bei ihnen verläuft eine Infektion nach wie vor meist unbemerkt oder milde. Laut der Covid-Taskforce entwickelt eines von 2500 bis 4000 infizierten Kindern aber ein lebensbedrohliches Entzündungssyndrom. Die Taskforce schreibt: «Da erwartet wird, dass sich langfristig praktisch alle nicht immunisierten Kinder infizieren, kann die Anzahl der betroffenen Kinder substanziell werden.»

9. Was haben Jugendliche davon, sich impfen zu lassen?

Zumindest bei jungen Erwachsenen ist das Risiko für Long Covid mit rund 10 bis 20 Prozent nach einer Infektion mit mildem Verlauf hoch. In einer Studie, die im Magazin «Nature» veröffentlicht wurde, hatten zehn bis 20 Prozent einer Gruppe von 16-30 Jährigen nach einem halben Jahr noch Beschwerden wie Müdigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Dieser sogenannte «Gehirnnebel» verunmöglicht es vielen weiter voll zu arbeiten oder zu studieren. Gehirnscans vor und nach einer Corona-Infektion zeigen eine Abnahme in der grauen Gehirnsubstanz in Regionen, die wichtig sind für Geruch, Gedächtnis und Emotionen. Ähnliche Werte werden bei Teenagern befürchtet, da solche Chronische Fatigue bei ihnen auch nach anderen Virusinfektionen bisher bereits vor kam. Allerdings sind bei Teenagern die Heilungschancen besser.