Neuro-Covid: Das Gehirn ist vom Coronavirus oft auch betroffen

Zu Beginn der Pandemie waren Neurologen nicht weiter beunruhigt: Patienten berichteten über Kopfschmerzen und Schwindel, diffuse Beschwerden, die auch bei anderen Viruserkrankungen häufig sind. Heute sind über 40 neurologische Symptome bekannt, die im Zusammenhang mit Covid-19 stehen.

Bis zu 50 Prozent der hospitalisierten Patienten leiden an mindestens einer neurologischen Auffälligkeit: Viele Patienten riechen und/oder schmecken nicht mehr, andere klagen über massive Muskel- und Kopfschmerzen, bei manchen ist das Bewusstsein getrübt und in seltenen Fällen erleiden Patienten gar Krampfanfälle oder einen Schlaganfall.

«Das hauptsächlich betroffene Organ ist zwar die Lunge», sagt der Neurologe Raimund Helbok von der Med-Uni Innsbruck. «Doch in seltenen Fällen sei die Lunge kaum betroffen, dafür stünden neurologische Symptome im Vordergrund, und das altersunabhängig. Wegen der vielen neurologischen Facetten von Covid-19 sprechen Mediziner mittlerweile von «Neuro-Covid».

Das Virus dringt über die Nase ins Gehirn ein

«Das Gehirn kann auf vielfältige Weise Schaden nehmen, direkt oder indirekt», erklärt Helbok. Der direkte Weg ins Hirn führt über die Nase, wie Wissenschafter kürzlich nachwiesen. Sars-CoV-2 nützt die Riechschleimhaut als Eintrittspforte und kann von dort aus über den Riechnerv ins Gehirn klettern»,

erklärt der Neuropathologe Frank Heppner von der Berliner Charité, der gemeinsam mit Kollegen die Gehirne von 33 an Covid-19 Verstorbenen untersucht hat.

Allerdings kann dieser Weg nicht der einzige sein: Denn in der Hirn­flüssigkeit, die das Gehirn umgibt, kann das Virus selbst nur selten nachgewiesen werden. «Das spricht dafür, dass das Virus Nervenzellen zwar befallen kann, dies jedoch nur selten der Fall ist», so Helbok.

Auch die histologischen Untersuchungen des Gehirns weisen darauf hin, dass es einen weiteren Infektionsweg geben muss, da das Hirngewebe in der Regel nicht direkt von Sars-CoV-2 angegriffen wird.

Durch die Verklumpungen entstehen im Gehirn kleinste Schlaganfälle

Die Berliner Neuropathologen wiesen das Virus zudem auch in Hirnteilen nach, die nicht mit dem Riechzentrum in Verbindung stehen, und zwar in den Blutgefässwänden. Diese werden von einer Zellschicht ausgekleidet, die als Endothel bezeichnet wird. Indem Sars-CoV-2 diese Zellen befällt, erreicht das Virus mit dem Blutstrom jedes andere Organ, auch das Gehirn.

«Das Endothel von Covid-Patienten ist an manchen Stellen schaumig verändert und aufgebläht und es finden sich kleine Mikrothromben an verschiedensten Stellen», sagt der Neurologe Christian Enzinger von der Med-Uni Graz. Durch den Verschluss solcher feinen Gefässe entstehen im Gehirn kleine Schlag­anfälle oder Blutungen, was zu einer Sauerstoffunterversorgung des betroffenen Hirnbereichs führt.

Schaden nehmen kann das Gehirn auch durch die überschiessende Immunreaktion bei schwer erkrankten Covid-19-Patienten. «Der Körper arbeitet mit allem gegen die Virusinfektion und an einem bestimmten Punkt entgleist die Immunantwort und schädigt die Organe», erklärt Enzinger, «Da das Gehirn keine Insel ist, sondern abhängig ist von der Funktion anderer Organe, wird es ebenfalls geschädigt.»

Etliche Forschergruppen arbeiten daran, herauszufinden, welcher molekulare Schalter im Immunsystem für die fehlerhafte Reaktion verantwortlich ist.

In seltenen Fällen löst das Virus überdies eine Autoimmunreaktion aus: Die im Verlauf der Infektion gebildeten Antikörper richten sich dann nicht nur gegen das Coronavirus, sondern auch gegen eigenes Nervengewebe.

Die Spätfolgen wurden lange unterschätzt

Neben der zentralen Frage dieser Pandemie, warum manche Menschen so schwer erkranken und das Gros nur leicht, stellt sich auch die Frage nach den Langzeiteffekten: Wie lange halten neurologische und andere Symptome an? «Nach einem Jahr Pandemie wissen wir erschreckend wenig darüber», gesteht Enzinger. Das hänge mit der Belastung des Gesundheitssystems zusammen, aber auch damit, dass dieses Virus anders sei.

Für Aufmerksamkeit sorgte in diesem Zusammenhang ein im Dezember im Fachjournal «The Lancet» veröffentlichter Aufruf betroffener Ärzte in England: Die Ärzte, die sich zur Facebook-Gruppe «UK doctors#longcovid» zusammengeschlossen haben, fordern darin die systematische Erfassung und Erforschung der Spätfolgen und warnen davor, die Beschwerden zu verharmlosen.

Chronische Erschöpfung ist ein ernst zu nehmendes Symptom.

Chronische Erschöpfung ist ein ernst zu nehmendes Symptom. © Shutterstock

Die bislang umfangreichste Studie zu den Spätfolgen wurde Anfang Januar ebenfalls in «The Lancet» veröffentlicht: Die Wissenschafter untersuchten und befragten 1733 Patienten, die in Wuhan im Krankenhaus behandelt worden waren, über bis zu sechs Monate hinweg nach ihrem Gesundheits­zustand.

Drei Viertel der Patienten litten noch sechs Monate nach ihrer Erkrankung unter mindestens einem Symptom, viele davon neurologischer Natur. Am häufigsten waren chronische Erschöpfung und Muskelschwäche, gefolgt von Schlafstörungen sowie Ängsten und Depressionen.

Nun werden die neurologischen Probleme genau erforscht

Gemeinsam mit Kollegen aus Europa hat der Innsbrucker Neurologe Helbok für die Europäische Akademie für Neurologie ein internationales Patientenregister namens ENERGY (Ean NEuro-covid ReGistrY) eingerichtet, um neurologische Komplikationen und Langzeitfolgen der Covid-19-Erkrankung weltweit zu erfassen. Über 400 von Neurologen eingehend untersuchte Patienten wurden bislang eingeschlossen.

Ein blinder Fleck in Sachen Neuro-Covid ist allerdings die wesentlich grössere Patientengruppe, die nur milde Symptome hat und nicht im Krankenhaus behandelt wird. Laut dem Virus-Steckbrief des Robert-Koch-Instituts in Berlin kann es auch bei milderen Verläufen zu längerfristigen Müdigkeitserscheinungen, Gedächtnisproblemen oder Wortfindungsstörungen kommen.

Was ist mit jenen, die nur schwach betroffen sind?

«Bislang fehlen Daten zu dieser Gruppe», sagt Helbok, «wir wissen also nicht, wie viele dieser Patienten an Langzeitfolgen leiden und wie lange.» In einem Projekt der Medizinischen Universität Innsbruck wurde deswegen ein Fragebogen an eine repräsentative Patientengruppe in Tirol verschickt. Die Ergebnisse stehen noch aus.

Immerhin: Die Geruchs- und Geschmacksstörungen, die häufiger bei milden Krankheitsverläufen beobachtet werden, bilden sich meistens nach zwei bis drei Wochen zurück.