Nora Meister: «Ich fühle mich nicht als die Beste»

Es gibt nicht viele Menschen, die von sich behaupten dürfen, etwas nachweislich am besten zu können. Nora Meister darf. Schon zweimal schwamm sie Weltrekord. Letztmals vor etwas mehr als einer Woche an den Europameisterschaften auf der portugiesischen Insel Madeira. Deswegen abzuheben, kommt für die 18-Jährige aber nicht in Frage. Es ist eine sympathische Bescheidenheit, die sie sagen lässt: «Ich fühle mich nicht als die Beste.»

Doch die Aargauerin ist es. Über 400 m Freistil in der Startklasse S6 zum Beispiel. Es ist eine Disziplin, die im Sommer auch an den Paralympischen Spielen in Tokio ausgetragen wird. So sie denn stattfinden und nicht – wie schon vor einem Jahr – verschoben werden. «Die Teilnahme ist ein Traum, den habe», sagt Meister. Die Spiele sind ein Sehnsuchtsort. Aber nur wenige erreichen ihn.

Nora Meister war schon einmal in Olympiaform. Doch dann kam Corona und veränderte so vieles. Für die heute 18-Jährige fast alles. Achtmal pro Woche ist sie normalerweise im Wasser. Dort, wo sie sich besser fühlt als nirgendwo sonst. Im Wasser braucht sie keinen Rollstuhl, um schnell weite Strecken zurückzulegen.

Von Hürden lässt sie sich nicht stoppen

Eine angeborene Gelenksteife, die bei Meister vor allem in den Beinen auftritt, beeinträchtigt sie beim Laufen. Zwar kann sie mit komplett gestreckten Beinen und mit Hilfe von Stützen einige Schritte gehen. Doch für grössere Distanzen benötigt sie den Rollstuhl. Arthrogryposis multiplex congenita nennen es Mediziner. Was kompliziert klingt, kann vor allem kompliziert sein. Zum Beispiel, wenn Meister Autofahren lernen will. Zuerst brauchte es zig Formulare und dann ein Fahrzeug, das der Fahrlehrer mieten muss und nicht immer verfügbar ist. Hürden ist sich Meister gewohnt. Stoppen lässt sie sich davon nicht. «Wenn das Ende noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.» Der Satz wurde zur ihrem Motto.

Vor allem, als die Coronapandemie das Leben fast zum Stillstand brachte und die Frei- und Hallenbäder in der Schweiz schliessen mussten. Nora Meister durfte nicht mehr ins Wasser. In ihr Element, das ihr so viel Freiheit gibt.

Aber nicht nur. Bewegung ist für Meister essenziell. Bewegt sie sich nicht, drohen ihre Beschwerden grösser zu werden. Und nirgends bewegt sie sich so leicht wie im Wasser, dessen Unterschiede sie sogar spüren kann. Corona verwehrte ihr den Zutritt zum Becken. Zwar wich die Lenzburgerin aus, verbrachte mehr Zeit auf dem Handbike, ein Fahrrad, das mit Händen be­trieben wird. Oder sie trainierte in der extra im Elternhaus eingerichteten Fitnessecke. Aber die Form litt. «Es dauert lange, bis ich mich dem Niveau von vor Corona annähern konnte», sagt Meister.

Eintauchen in einefaszinierende Welt

Entsprechend tief waren die Erwartungen vor der EM. Umso grösser ist die Freude über zweimal Gold und einmal Silber. «Die Ergebnisse sind der Beweis, dass es sich gelohnt hat, immer dran zu bleiben.»

Wenn sie von Schwimmen spricht, gerät Meister, die an der Alten Kantonsschule Aarau das Sportgymnasium besucht und in zwei Jahren die Matura macht, ins Schwärmen. Aber nicht nur das Gefühl im Wasser weckt bei ihr viele Emotionen. Auch das Drumherum. «Ich reise in ferne Länder, lerne Menschen kennen, die ich sonst wohl nie getroffen hätte», sagt sie. «Das gibt mir sehr viel.» Das Leben im Rollstuhl kennt viele Hindernisse, hier öffnete ihr das Handicap die Türen.

Die Schultern werden besonders beansprucht

Meister trainiert im Schwimm­klub Aarefisch. Als einzige ohne den zusätzlichen Schub aus den Beinen, die sie stattdessen verschränkt, um weniger Widerstand und mehr Stabilität zu erhalten. Die Kraft kommt aus dem Rumpf und den Armen. Besonders die Schultern werden stark beansprucht. Eine Physiotherapie, um die strapazierten Bereiche zu lockern, ist unumgänglich. «Es gibt ganz wenige Trainingseinheiten, die ich nicht gleich machen kann wie andere Schwimmer. Aber ich spüre sehr selten einen Unterschied», sagt Meister.

Ihr Weg wird sie an die Paralympischen Spiele führen. Nur wann, steht noch nicht fest. «Ich versuche einfach, bereit zu sein. Mehr kann ich nicht machen», sagt Meister. Ob die Spiele stattfinden oder nicht, entscheiden andere. Japan aber reizt sie. «Obwohl ich an Wettkämpfen meist nur den Flughafen, das Hotel und das Becken sehe.» Meister schmunzelt. So ist es, das Leben als Spitzensportlerin, das ihr so viel gibt.

An der Kantonsschule wurde sie nach den Erfolgen an der EM offiziell empfangen. In die Kamera lächelte sie leicht verlegen. Nora Meister ist die Schnellste der Welt. Anders will sie des­wegen nicht sein. «Aber freuen kann ich mich.»