Nur wenige Neuinfektionen trotz der Lockerungsschritte: Hätte Social Distancing schon gereicht? Sieben Fragen und Antworten

1. Weder bei der ersten noch bei der zweiten Lockerung ist es zu einem Anstieg der Neuinfektionen gekommen. Welchen Einfluss könnte das Frühlingswetter gehabt haben?

Für den Berner Immunologen Beda Stadler ist klar, dass sommerliche Verhältnisse eine Rolle spielen. Allerdings nicht wegen der Temperatur, sondern weil die Menschen draussen sind und von Tröpfcheninfektionen kaum betroffen. «Zudem killt ultraviolettes Licht alle Viren. Die Weisung des Bundesrates zu Hause zu bleiben, war deshalb kontraproduktiv», sagt Stadler.

Diese Massnahme sei «für die Katz» gewesen. Den Sommereffekt hält Pietro Vernazza, Chefarzt der Klinik für Infektiologie am Kantonsspital St.Gallen, für umstritten. «Meist gehen wir davon aus, dass sich Atemwegsviren im Sommer weniger gut ausbreiten. Mathematische Modelle lassen aber vermuten, dass bei einer Pandemie die Saisonalität weniger ausgeprägt ist.» Vernazza erachtet es als durchaus möglich, dass die Fallzahlen auch in den Sommermonaten ansteigen.

2. Führen harmlose Coronaviren, die uns jeden Winter treffen, zu einer Restimmunität, die ebenfalls mitgeholfen hat?

Diese Restimmunität steckt in unseren Körpern. Dazu gibt es nach Beda Stadler neue Studien, in denen eine 30-prozentige Immunität gegen Coronaviren festgestellt wurde. Die verschiedenen Coronaviren seien verwandt, deshalb gebe es eine Restimmunität.

Die Behauptung, die insbesondere der deutsche Virologe und Merkel-Berater Christian Drosten gemacht habe, es gebe keine Immunität gegen Sars-CoV-2 sei falsch. Das zeige sich auch dadurch, dass kein Kind unter zehn Jahren an Covid-19 gestorben sei, sagt Stadler.

3. Welchen Einfluss könnte die Immunisierung der Bevölkerung durch das neue Coronavirus gehabt haben?

Die Immunisierung der Bevölkerung gegenüber Covid-19 sei bei uns noch minimal und habe noch keinen Einfluss gehabt, sagt Vernazza.

4. Den grössten Anteil am Rückgang hat die Einhaltung der Hygiene- und Distanzregeln. Hätte alleine die Einhaltung dieser Regeln genügt, um die Fallzahlen sinken zu lassen?

Für den Immunologen Stadler ist das so. In Ländern wie Japan und Korea sei das Social Distancing gesellschaftliches Programm. Die schnelle Eindämmung habe dort nicht in erster Linie mit der Tracking Software zu tun gehabt, sondern mit dem Einhalten der Hygieneregeln.

Dass das Distanzhalten alleine gereicht hätte, hält Vernazza dagegen für unwahrscheinlich. «Der Lockdown selbst war sicher wichtig für eine rasche Wirkung. Einen Teil der Massnahmen hätte man eventuell etwas früher beenden können.»

5. Ist das Virus weniger ansteckend als zuerst gedacht?

«Nein, das Virus ist ansteckend. Schwierig ist die Bekämpfung, weil Menschen ansteckend sind, bevor sie Symptome zeigen. Das macht es heimtückisch», sagt Vernazza. All die Berechnungen der Infektions- und Mortalitätsraten sieht Stadler kritisch. Das Virus hat gemäss dem Berner Immunologen dort zugeschlagen, wo es eine günstige Situation vorfand.

Dort wo soziale Probleme und ein schlechtes Gesundheitssystem zusammenkommen wie an gewissen Orten in den USA. Zum Beispiel bei den Navajo-Indianern, die eng zusammenleben und oft an Vorerkrankungen wie Diabetes leiden. In unserem Gesundheitssystem sei die Gefahr viel kleiner. Das Gerede von einer schlimmen zweiten Welle sei Panikmache. Aber das «himmeltraurige Virus» suche sich die Armen und Schwachen aus, so wie jetzt auch in den Favelas Brasiliens.

6. Die Ansteckung über Aerosole wird von den meisten Experten als wenig wahrscheinlich bezeichnet. Hat sich das bestätigt?

Die meisten Erkenntnisse weisen darauf hin, dass die Übertragung über Aerosole einen minimalen Beitrag zur Ausbreitung von Covid-19 hat. «Das scheint vernachlässigbar», sagt Vernazza.

7. Wie genau kann man sagen, dass es nach den Lockerungen kein Anstieg der Infektionen gegeben hat?

Gemäss Daniel Koch vom BAG ist der Trend nach unten klar. Allerdings ist die aktuelle Reproduktionszahl R noch nicht bekannt, weil diese immer erst mit einer Verzögerung von zehn Tagen berechnet werden. Somit dauert es rund zwei Wochen, bis man eine Wirkung von veränderten Massnahmen sehen kann.

Aber es hat sich doch gezeigt, dass in den ersten sechs Tagen nach der grossen Lockerung vom 11. Mai die Ansteckungen nicht zugenommen haben. Daniel Koch vom BAG sagt, dass es im Moment sehr wenige respiratorische Viren gibt, die zirkulieren. Die Leute haben zur Zeit keine Symptome, sind nicht verschnupft und husten nicht. Sie haben auch keine Symptome von anderen Viren.