
Ökonomin sagt, welche Chancen der Bundesrat verpasste und widerspricht Ueli Maurer: «Es ist nicht die Zeit zum Sparen»
Frau Pomeranz, der Bundesrat versucht offensichtlich alles, um die wirtschaftlichen Kosten der Pandemiebekämpfung zu minimieren. Ist er erfolgreich damit?
Dina Pomeranz: Es wäre für die Wirtschaft besser gewesen, wir hätten früher im Sommer bereits zielgerichtete Massnahmen getroffen. Als man sah, dass die Ansteckungsraten wieder stiegen, wäre es möglich gewesen, diese mit relativ limitierten Massnahmen zu stoppen. Dann wären wir jetzt nicht in der aktuellen schlimmen Situation.
Die Lockerungsmassnahmen im Sommer waren offensichtlich ein Fehler. Worin hat sich der Bundesrat denn genau verschätzt?
Was sich der Bundesrat überlegt hat, kann ich nicht beurteilen. Es ist jedoch schade, dass er den Expertinnen und Experten der Task Force scheinbar wenig Gehör geschenkt hat. Leider haben sich deren Warnungen nun bestätigt.
Hätten wir es also wie die Schweden machen und auf die sommerlichen Lockerungen verzichten sollen?
Kleine Massnahmen hätten im Sommer bereits genügt, um die Ansteckungen flach zu halten. Dazu gehört vor allem ein viel effizienteres Contact Tracing. Zudem die Maskenpflicht in geschlossenen Räumen und Beschränkung von gewissen Hochrisikoaktivitäten wie das Singen oder Tanzen in geschlossenen Räumen.
Werden wir einen zweiten Lockdown brauchen? Irland, Wales Tschechien und andere Länder mit teils geringeren Fallzahlen als die Schweiz haben das öffentliche Leben bereits stillgelegt.
Ich hoffe, dass es nicht dazu kommen wird, aber mit jedem Tag, an dem wir keine wirksamen Schritte unternehmen, erhöht sich das Risiko, dass dies nötig wird. Deshalb ist es so wichtig, die galoppierende Ansteckungsrate wieder zu reduzieren. Dies wird uns nun sowohl wirtschaftlich wie gesundheitlich viel teurer zu stehen kommen, als wenn wir die Ansteckungen früher tief gehalten hätten.
Kleine Massnahmen hätten im Sommer bereits genügt, um die Ansteckungen flach zu halten. Hat sich die Wirtschaft also selbst geschadet, indem sie im Sommer mit aller Kraft für eine Lockerung lobbyiert hatte?
Wenn wir von «der Wirtschaft» sprechen, müssen wir immer genau unterscheiden, wen wir meinen. Es gibt einen grossen Unterschied zwischen Partikularinteressen einzelner Wirtschaftszweige und den gesamtwirtschaftlichen Interessen. Für die Gesamtwirtschaft sind wirkungsvolle Corona-Präventivmassnahmen enorm wichtig. Wenn die Ansteckungen steigen, schadet das der Wirtschaft mehrfach: die Nachfrage sinkt, da die Menschen weniger unternehmen und weniger einkaufen. Mitarbeitende fallen aus, wenn sie krank oder in Quarantäne sind. Ausländische Geschäftsleute kommen nicht mehr in die Schweiz, um Business betreiben. Diese Kosten gehen in die Milliarden.
Was ist zu tun, um das Dilemma der Interessensgegensätze innerhalb der Wirtschaft aufzulösen?
Es ist zentral, dass wir Organisationen und Firmen wie Sportclubs oder Discos entschädigen, die von den Schutzmassnahmen direkt und besonders stark betroffen sind. Denn indem sie Risikoaktivitäten einschränken, leisten sie einen wichtigen Beitrag, um die Pandemie einzudämmen. Dies wirkt sich für die grosse Mehrheit der Firmen positiv aus.
Haben die von Ihnen angesprochenen Bereiche der Wirtschaft denn Grund, an einer Entschädigung für die Einhaltung der Schutzmassnahmen zu zweifeln? Ist der Bund zu knausrig?
Im Moment steht noch offen, welche unterstützenden Massnahmen in der zweiten Welle bewilligt werden. Viele Instrumente der Schweizer Wirtschaftspolitik haben sich in der ersten Welle sehr bewährt. Die Kurzarbeit, die vom Staat gestützten Bankkredite und die schnelle, unbürokratische Hilfe für KMUs und Selbständige im Frühling konnten viel wirtschaftliches Leid verhindern.
Finanzminister Ueli Maurer sagt, die Schweiz könne sich ein zweites Corona-Hilfspaket nicht mehr leisten. Hat er Recht?
Ich würde es umgekehrt sagen: Wenn die Pandemie jetzt wieder ausufert, können wir uns die Abwesenheit eines Hilfspakets nicht leisten. Die wirtschaftliche Unterstützung in dieser tiefen Rezession ist zentral. Ohne diese würde der wirtschaftliche Schaden noch viel grösser. Auch die Schuldenbremse der vergangenen Jahre hilft uns heute. Dank ihr haben wir in guten Zeiten gespart für die schlechten Zeiten. Die Staatsverschuldung ist komfortabel tief. Wir befinden uns nun in schlechten Zeiten. Es ist nicht die Zeit zum Sparen.
Manche Wirtschaftsvertreter betonen sehr die Selbstverantwortung der Bevölkerung für die eigene Gesundheit. Muss der Staat Regeln festlegen, weil wir einfach ein disziplinloser Haufen sind?
Nein, in solchen Situationen kann das Gebot der Eigenverantwortung nicht genügen, weil unser eigenes Verhalten nicht nur uns selbst, sondern auch andere betrifft. Wenn ich keine Maske anziehe, ist dies nicht nur ein Risiko für mich, sondern auch für alle anderen, die ich dadurch eventuell anstecke. Die Ökonomie nennt dies eine «Externalität»: Mein eigenes Handeln hat externe Effekte auf andere. Es ist ein Grundprinzip der Volkswirtschaftslehre, dass bei solchen Externalitäten die Eigenverantwortung und der Markt allein nicht reichen.
Gibt es andere Beispiele für solche Externalitäten?
Ja, es gibt viel solche Fälle. Nehmen Sie die Tempolimiten. Weil Rasen nicht nur mich selber gefährdet, sondern auch die anderen Verkehrsteilnehmenden, überlassen wir die Entscheidung nicht einfach dem Einzelnen.
Welche Lehre sollte der Bundesrat daraus ziehen?
Es ist wichtig, neben den Wirtschaftsverbände auch auf die gesamtwirtschaftlichen Analysen von Expertinnen und Experten der Volkswirtschaft zu achten, zum Beispiel in der Wirtschaftsgruppe innerhalb der Covid-Task-Force des Bundes. Auch wir an der Universität Zürich haben ein Positionspapier zu diesen Fragen veröffentlicht, welches einstimmig von allen Professoren und Professorinnen des Ökonomie-Departements verfasst wurde. Es herrscht in der Ökonomie grosse Einigkeit: Gesamtwirtschaftlich ist der Schutz vor der Pandemie wichtig. Dafür sind breites Testen und effizientes Contact Tracing zentral. Es braucht zudem gewisse Einschränkungen von Risikoaktivitäten und grossen Veranstaltungen, um den Rest der Wirtschaft zu schützen. Die davon betroffenen Betriebe sollten schnell und unbürokratisch finanziell entschädigt werden.
Dina Pomeranz, Ökonomin
Dina Pomeranz ist Assistenzprofessorin für angewandte Ökonomie an der Universität Zürich. Am 13. Oktober präsentierte sie der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Parlaments ihre Sicht zu den ökonomischen Aspekten der Pandemiebekämpfung.