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Wie eine Symphonie: Die Lesung von Pedro Lenz mit dem Pianisten Christian Brantschen

Schwermütige Pianoklänge eröffneten den Abend. Pedro Lenz – in buntem Hemd, geziert mit Kanarienvögeln, und dunklem Blazer – trat ans Mikrofon und stimmte kurz darauf mit monotoner Stimme in Christian Brantschens Klavierspiel ein.

«A däm Tag, wo de Primitivo isch gstorbe, han i z Wiedlisbach im Dettebüeu zwöiedriissg Sanitärschlitze zuegmuuret.»

Lenz’ Einstieg in seinen Roman «Primitivo» berührte, denn die Reaktion der Roman-Protagonisten auf die tragische Nachricht lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Primitivo ein ganz besonderer Mensch war; ein Bauarbeiter, aber irgendwie auch ein Philosoph: Seit dem 12. Lebensjahr am Schuften und jetzt, kurz vor seinem Ruhestand, auf der Baustelle tödlich verunglückt.

Charly, der Maurerstift und Ich-Erzähler der Geschichte, spürt die Beklemmung seiner Büezer-Kollegen und mokiert sich in Gedanken über «Hügus soudummi Plattitüde»: «so schnell chas ga», um dann zum Schluss zu kommen: «I somne Moment darfsch ou mou öppis uselo, wo nid wahnsinnig schlau isch.»

Trotz des traurigen Intros der Geschichte liess Lenz’ Humor nicht lange auf sich warten, was das Publikum schmunzelnd honorierte. Die Weise, in welcher er aus Sicht des Maurerstifts die Welt und dessen Erleben beschrieb, war schlicht hinreissend. Auf der Bühne der 56-jährige Lenz mit grau meliertem Haar, vor dem inneren Auge der blutjunge Charly, dem man quer durch die Lesung kompromisslos folgte. Zum Beispiel an jenes Sommerwaldfest in Herzogenbuchsee, an welchem er seine angebetete Laurence trifft.

«E wunderbari Frou mit somne liecht glängwilete Usdruck im Gsicht, so wi di jungi Simone Signoret uf de Füumplakat», las Lenz. Wer schon einmal im Leben so richtig verliebt war, spürte in diesem Moment exakt, was in Charly wohl vorgehen musste. Rund läuft’s für den Halbwüchsigen im Roman jedoch nicht immer. Mit viel Solidarität und Mitgefühl tappte man als Zuhörende bereitwillig mit dem Jungspund ins eine oder andere Fettnäpfchen und litt mit ihm mit. Besonders als Lenz in nachdenklicher Manier davon erzählte, wie Charly wegen eines Rivalen namens Graber, «däm Sträber», bezüglich seiner Angebeteten den Rückzug antritt, hätte man dem Jungen gerne ein «Kopf hoch» zugeflüstert.

Zu Primitivo hat Lenz’ Hauptfigur eine ganz besondere Verbindung. Der alte Mann, welchem die anderen Bauarbeiter viel Respekt entgegenbrachten, nahm Charly nicht nur immer wieder in Schutz, auch trafen sie sich an manchen Samstagabenden zu Debatte, Wein und Forelle.

«Mir hei enang sehr vüu vo üs verzöut gha, vor auem är, wöu vo mir hets natürlich no weniger z verzöue ggä, scho vom Auter här.»

Immerhin habe Primitivo zwei Kriege hautnah erlebt, Charly noch nicht einmal einen Bandenkrieg im «Schorewaud».

Das harmonische Zusammenspiel zwischen Lenz und seinem Bühnenpartner Brantschen wirkte teils fast mehr wie ein Konzert als eine Lesung. Im zweiten Teil des Abends gab der Pianist sogar eine gesangliche Einlage und leitete so über zum Kapitel, in dem Lenz von einem Polo-Hofer-Konzert anno 1982 in der «Traube» in Wynau rezitierte – mitten im Publikum Charly, Erz-Rivale Graber und Laurence.

Immer wieder blickte Lenz – zum exakt richtigen Zeitpunkt – ins Publikum und unterstrich damit die Dramatik des soeben Gelesenen. Dabei handelte es sich meist um Alltägliches, eher Unbedeutendes, wie man im ersten Moment meinte. Lenz gelang es jedoch, eine Lupe über die Geschehnisse des Ich-Erzählers zu legen, genau hinzuschauen und sich auf dessen fiktionalen Gedankenstrom einzulassen. Und aus dem vermeintlich Unbedeutenden wurde auf einmal etwas Kostbares und Wichtiges, einfach weil man spürte, wie essenziell es für Charly war. Den hatte man – gerade für seine Direktheit – von Seite eins an ins Herz geschlossen.

Direkt wurde Lenz auch kurz vor der Zugabe. Er sei an einem Patent-Ochsner-Konzert gewesen, da habe sich die Band zigfach auf die Bühne zurückklatschen lassen. Die Zugabe habe schliesslich rund eine Stunde gedauert. Lenz: «Mer gäbe eifach ei Zuegab, die deför rächt.»