Pascale Bruderer zum Lockdown mit zwei Kindern daheim: «Ja, das war intensiv, da kam ich ans Limit»

Pascale Bruderer

Am Mittwoch feiert die Aargauerin ihren 44. Geburtstag. Nach einer langen Karriere als SP-Politikerin, zuletzt war sie acht Jahre Ständerätin, wechselte sie letztes Jahr in die Wirtschaft. Sie ist Mitinhaberin des Start-ups «Crossiety», das den Gemeinden einen digitalen Dorfplatz anbietet. Zudem ist sie Verwaltungsrätin bei Galenica, Bernexpo und der TX Group. Pascale Bruderer lebt mit ihren beiden Töchtern Juliana (9-jährig) und Amélie (7) in Nussbaumen bei Baden.

Sie komme «birebizeli» zu spät, dafür bringe sie selbstgebackenes Brot frisch aus dem Ofen mit, kündigt Pascale Bruderer per Whatsapp an. Ein paar Minuten später steht sie aber schon da. Wir treffen uns zum Grillinterview oben auf dem Martinsberg, einem der vier Chänzeli-Aussichtspunkte über der Stadt Baden. «Wunderschön hier, oder? Die Klus von Baden, das Limmatknie, die markanten Industriegebäude», schwärmt Bruderer. Wir machen Feuer. Wir haben uns auf klassisches Grillgut geeinigt: Cervelat mit Brot.

Das letzte Interview gaben Sie im Herbst 2019. Damals befragte ich Sie und Philipp Müller zum Abschied aus dem Ständerat. Seither hat sich viel verändert – auf der Welt und bei Ihnen persönlich.

Pascale Bruderer: Ja, es ist unglaublich viel passiert.

Sie wechselten quasi direkt von der Politik in die Pandemie. Hat das Ihre Pläne über den Haufen geworfen?

Nein, ich konnte mit meinen Projekten loslegen wie geplant. Beim Start-up genauso wie bei meinen Engagements in Verwaltungsräten.

Auf Vorschlag von Pascale Bruderer treffen wir uns fürs Sommerinterview auf dem Martinsberg-Chänzeli oberhalb von Baden. Links: AZ-Chefredaktor Rolf Cavalli.

Auf Vorschlag von Pascale Bruderer treffen wir uns fürs Sommerinterview auf dem Martinsberg-Chänzeli oberhalb von Baden. Links: AZ-Chefredaktor Rolf Cavalli.

Claudio Thoma

Wie hat die Pandemie Ihren Alltag beeinflusst?

Abrupt und stark – doch ich fühlte mich auch privilegiert: Ich konnte vieles von Zuhause aus machen und meine Zeit selbständig einteilen. Zudem hatte ich plötzlich noch mehr Zeit mit meiner Familie.

Sie haben zwei Töchter im Primarschulalter. Wie haben Sie das gemanagt während des Lockdowns?

Das war intensiv. Ich habe die ersten zwei, drei Tage mit mir gehadert, alles perfekt machen zu wollen. Homeschooling und Homekindergärtnern zwischen Zmorge, Znüni, Zmittag, Zvieri, Znacht. Zusätzlich das eigene Homeoffice. Nachbarskinder habe ich auch noch betreut. Da kam ich ans Limit – bis ich nach drei Tagen entschied, die Ansprüche runterzuschrauben und es einfach so gut wie möglich zu machen.

Sie teilen die Kinderbetreuung mit Ihrem Ex-Mann. Funktionierte das im Lockdown gleich?

Ja, wir wohnen ja praktisch nebeneinander. Und weil auch er Homeoffice hatte, war die gemeinsame Kinderbetreuung fast noch einfacher.

Hat Sie Covid belastet?

Es ging ja fast allen so: Am Anfang war die Verunsicherung gross. Man wusste nicht genau, woran man war. Als die Pandemie berechenbarer wurde, war es auch weniger belastend. Geholfen hat das sonnige Wetter. Meine Kinder haben praktisch nur noch im Garten gelebt und das sehr genossen.

Glauben Sie, dass nun das Gröbste überwunden ist?

Dank der Impfung verbessert sich die gesundheitspolitische Situation. Wenn denn genug mitmachen. Aber die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie geben mir zu denken.

Sie engagieren sich beim Start-up «Crossiety», ein digitaler Dorfplatz für Gemeinden. Hat die Pandemie diesem Digitalisierungsprojekt zusätzlichen Schub verliehen?

Ja, enorm. Wir haben gespürt, dass es ein riesiges Bedürfnis dafür gibt. Mit der Coronakrise haben sich viele neue Gemeinden uns angeschlossen und es wurden rekordhohe Abdeckungen erreicht.

Was bietet Ihr Start-up Besonderes?

Eine vertrauenswürdige Plattform, dank der die Behördenkommunikation einfacher und interaktiver wird – und das Zusammenleben in der Gemeinde attraktiver. Wir bieten ähnliche Funktionen wie Facebook, sind aber im Unterschied dazu lokal ausgerichtet, geben keinerlei Daten weiter und unterstützen die Einführung mit persönlicher Beratung vor Ort. Aus Überzeugung verbinden wir virtuell und analog. Denn Digitalisierung heisst für uns nicht, dass die persönliche Begegnung eine geringere Rolle spielen soll. Im Gegenteil.

Digitalisierung ist in aller Munde. Gleichzeitig steigen Vorbehalte, gerade wenn sie mit Datenschutz einhergeht. Hat es Sie überrascht, wie etwa das E-ID-Gesetz kläglich gescheitert ist vor dem Volk?

Ich habe gestaunt und bedauert, wie sehr man in der Kampagne an der Bevölkerung vorbeigeredet hat. Digitalisierung allein ist noch kein Mehrwert. Es braucht anschauliche, erlebbare Alltagsbeispiele – und vor allem echten Dialog statt Schlagworte.

Auch bei Corona sind viele Leute skeptisch, wenn es um Daten geht.

Das ist normal. Es war klar, dass in dieser Unsicherheit der Pandemie nicht einfach alles durchgewunken wird, was von oben kommt. Mir macht das aber keine Angst. Die meisten Menschen gehen rational und vernünftig mit diesen Fragen um.

Impfen ist zu einer Art Glaubensfrage geworden. Wie stehen Sie dazu?

Für mich war klar, dass ich mich impfe.

Lassen Sie Ihre Kinder impfen?

Sie sind noch nicht zwölf. Darum stellt sich die Frage noch nicht. Falls die Zulassung nächstes Jahr kommt, werden wir die Kinder in den Entscheid miteinbeziehen.

Sie sind Verwaltungsrätin bei Galenica, einem Apotheken-Unternehmen. Wie erleben Sie die Pandemie aus dieser Sicht?

Es ist mir eindrücklich bewusst geworden, welch wichtige Verantwortung Galenica für die Versorgungssicherheit im Schweizerischen Gesundheitswesen wahrnimmt – speziell in Krisen. Nicht nur mit den Apotheken, sondern auch in der gesamten Medikamentenlogistik.

Apotheker beklagen sich, der Bund entschädige sie zuwenig für Covid-Tests. Erklären Sie als Verwaltungsrätin Ihrem Unternehmen, wie Politik funktioniert, oder machen Sie sich in der Politik stark für die Interessen Ihres Arbeitgebers?

Ich verstehe mich nicht als Lobbyistin und konzentriere mich auf meine strategischen Aufgaben als Verwaltungsrätin. Natürlich hilft mir dabei aber mein Verständnis für politische Prozesse und Regulation.

 

Claudio Thoma

Wie unterscheidet sich die Arbeit in Wirtschaft und Politik?

Der operative Startup-Alltag ist mit der parlamentarischen Arbeit nicht zu vergleichen. Bei der strategischen Arbeit einer Verwaltungsrätin hingegen sind die Unterschiede vom Handwerk her nicht fundamental. Auch hier kommen verschiedene Perspektiven zusammen und es wird im Dialog die bestmögliche Entscheidung getroffen. Ich habe als Politikerin immer gerne überparteilich gearbeitet, wollte immer alle Positionen kennen und verstehen. Das hilft mir jetzt enorm.

Wirklich nichts, das für Sie persönlich jetzt ganz anders ist?

(Lacht) Ich muss nicht mehr zu allem eine Stellungnahme in der Öffentlichkeit abgeben.

Philipp Müller meinte zum Abschied, er werde sich hüten, in Zukunft die Politik zu kommentieren. Zu Covid und Rahmenabkommen hat er es dann doch nicht lassen können. Hat es Sie nie gejuckt?

Ich war 20 Jahre sehr gerne Politikerin, welche die öffentliche Meinung mitgestalten konnte. Das war Teil meiner Arbeit. Das ist es jetzt nicht mehr.

Das Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU betrifft aber die Wirtschaft stark, auch Galenica oder?

Ja, generell ist Unsicherheit nie gut. Es hängen Abkommen in der Schwebe, die auch die Gesundheitsbranche betreffen.

Sie waren wie Müller Befürworterin eines Rahmenabkommens.

Ich bin immer noch Befürworterin von geregelten Beziehungen. Deshalb habe ich schon gestaunt über den Verhandlungsabbruch des Bundesrats.

Inwiefern?

Irgendwann muss die Schweiz den Dialog ja wieder aufnehmen. Es stärkt unsere Position nicht, wenn wir dies als jene tun müssen, welche die Verhandlungen abgebrochen haben.

Was lief schief?

Die innenpolitische Diskussion. Man hätte nicht während laufender Verhandlungen unseren eigenen Vertretern in den Rücken fallen dürfen.

Die Glut ist jetzt gut. Pascale Bruderer hält gleich zwei Cervelats in den Grill, einen für sie und einen für den Fotografen.

 

Claudio Thoma

Was vermissen Sie definitiv nicht aus Ihrer Politikzeit?

Die Schnelllebigkeit von Socialmedia, die Einzug gehalten hat in den Ratssälen.

Sind Sie mit Ihrer Partei, der SP, noch verbunden?

Ja, die Partei war mir immer wichtig. Ich war zwar oft am Rand der Parteimeinung, konnte aber meine Position immer einbringen. Ich hoffe und erwarte, dass sozialliberale Ansichten auch weiterhin Platz haben in der SP.

Ist die SP mit Wermuth/Meyer nicht noch mehr nach Links gerutscht?

Jedenfalls hat sich der sozialliberale Reformflügel jetzt institutionalisiert und Mattea Meyer nahm an der Gründungsveranstaltung aktiv teil, was mich freute.

Ruft Cédric Wermuth Sie an bei einem Wirtschaftsthema?

Also um Rat fragt er nicht. Aber gelegentlich im Austausch sind wir schon. Cédric und ich verstehen uns gut, auch wenn man das von aussen nicht immer glaubt. Wir haben in der SP Aargau eine gute Kultur, auch über die Parteiflügel hinweg. Wenn ich da in andere Kantone schaue…

Sie meinen Zürich, wo sich die Sozialdemokraten zerfleischen.

Das ist unnötig und schade.

Mir fällt auf: Sie haben mit Galenica, Bernexpo oder der Uni Bern einige Mandate in Bern, Ihr Partner ist aus Bern. Verschiebt sich Ihr Lebensmittelpunkt schleichend in den Westen?

Überhaupt nicht. Nussbaumen ist mein Zuhause, Baden meine Heimat. Und von hier bin ich rasch überall, auch im Büro in Zürich.

Im Aargau haben Sie keine Mandate. Bewusst nicht?

Es gab schon Anfragen. Aber ich will meine Mandate nicht maximieren. Ich bin gut ausgelastet und geniesse es, mehr Freiraum als früher zu haben. So kann ich auch Themen und Interessen vertiefen, die früher auf der Strecke blieben.

Was konkret?

Aktuell beschäftige ich mich intensiv mit der Digitalisierung des Geldes. Hier kommen grosse Veränderungen auf uns zu, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit verdienen.

Was fasziniert Sie daran?

Das Potenzial der Technologie und die Tatsache, dass dieses nun dank diverser Projekte – auch seitens der Zentralbanken – in die regulierte Welt und damit auch breite Bevölkerung getragen werden soll. Die Schweiz hat die grosse Chance, bei diesen Innovationen international eine treibende Kraft zu sein.

«Will jemand den Cervelat noch schwärzer?», fragt Bruderer und sagt: «Für mich ist gut so.»

 

Claudio Thoma

Apropos Schweiz: Halten Sie eine 1. Augustrede?

Nein, davon hielt ich ja in den vergangenen 20 Jahren genug. Als Schlussbouquet 2019 gleich vier. Bundesfeiern waren meine allerliebsten Auftritte.

Warum?

Man hat als Politikerin kaum je ein vielfältigeres Publikum. Dieses wunderbare Miteinander unterschiedlichster Menschen, die zusammen auf dem Dorfplatz an Festbänken eine Wurst essen. Zweitens: die Schweizer Geschichte und Werte, mit der ich mich sehr verbunden fühle. Und zu guter Letzt: Ich lernte die Schweiz so noch besser kennen. Jede Gemeinde ist anders. Da schliesst sich der Kreis. Die Nähe zu den Gemeinden habe ich jetzt wieder dank dem digitalen Dorfplatz von Crossiety.

Das war jetzt schon fast eine 1.- Augustrede.

(Schmunzelt) Vielleicht halte ich ja irgendwann wieder mal eine.

 

Claudio Thoma