Raoul Giger: «Die Bundesliga ist eine Nummer zu gross»

Schneesturm, zwei Platzverweise, sechs Tore, Verlängerung und das bessere Ende für den Aussenseiter: Mit 4:2 kegelte der FC Aarau Mitte Februar die Cup-Macht FC Sion aus dem Wettbewerb. Passende Pointe an diesem Abend: Das wegweisende 3:2 war Raoul Gigers erstes Tor im 108. Profispiel. Vor dem Viertelfinal gegen den FC Winterthur blickt der 23-jährige Gränicher zurück und sagt, warum er seinen Vertrag in Aarau nur kurzfristig verlängert hat.

Junge Fussballer träumen davon, das erste Profitor per Fallrückzieher oder mit einem Weitschuss ins Lattenkreuz zu erzielen. Bei Ihnen war es – pardon – ein «Drecksgoal»: Im Grätschschritt mit der Fussspitze den Ball irgendwie über die Linie gedrückt. Ein bisschen enttäuscht?
Raoul Giger: Okay, der Jubel war simpel, da könnte ich mir für weitere Tore etwas ausdenken. Aber sonst: Das war exakt ein Tor der Marke «Raoul Giger». Kein Kunstwerk, aber wichtig für die Mannschaft und den Verein. Zu meiner Verteidigung muss gesagt sein: Einfach war das Tor nicht zu erzielen, von links und rechts sind zwei Sion-Spieler ebenfalls zum Ball gegrätscht, aber ich war eine Millisekunde früher da.

Ihr Handy hat danach wohl öfter gesurrt als sonst…
Viele haben sich gemeldet, am meisten imponiert haben mir aber die Worte von Sion-Sportchef Barthélémy Constantin, der mich nach dem Spiel gesucht hat, um zu gratulieren. Es war ein aufwühlender Abend, ich bin danach noch länger mit dem Auto herumgefahren, ehe ich nach Hause bin, um alles sacken zu lassen.

Im Cup-Viertelfinal wartet nun der FC Winterthur und kein Klub aus der Super League. Eine grosse Chance für Aarau auf die erstmalige Halbfinalqualifikation seit 2005 – aber auch in Winterthur wird man von einem Glückslos reden.
Wir spielen im Brügglifeld, und in der Liga haben wir zu Hause eine positive Bilanz gegen Winterthur (3:1 und 0:0). Wir erwarten von uns das Weiterkommen. Und dann ist alles möglich, vom Final träumen darf man. Wir Spieler wissen, was für eine grosse Chance diese Saison der Cup bietet. Und dass es auch der Hinterletzte kapiert, dafür sorgt unser Trainer mit seinen Motivationskünsten.

Apropos: Stephan Keller ist Ihr fünfter Trainer beim FCA seit dem Profidébut im Herbst 2016. Was macht er anders als seine Vorgänger?
Wir haben den besten Trainer in der Challenge League. Mir persönlich gefällt es unter ihm so gut, weil ich mehr Aufgaben auf dem Feld habe als Rennen und Flanken. Fussballerisch habe ich mich im letzten halben Jahr enorm gesteigert. Und an seiner Führung imponiert mir, dass er mit einem Routinier genau gleich umgeht wie mit einem sehr jungen Spieler. Vom Captain bis zum Ersatzgoalie fühlen sich alle wichtig.

Stammspieler sind Sie seit gut drei Jahren – wo befinden Sie sich mittlerweile in der Teamhierarchie?
Oben in der Pyramide sind die Teamältesten Elsad Zverotic, Jérôme Thiesson, Olivier Jäckle und Shkelzen Gashi. Ich sehe mich in der Gruppe darunter. Ein Lautsprecher in der Kabine bin ich nicht, mein Naturell ist anders. Aber mich öfters bemerkbar zu machen, würde sicher nicht schaden, da muss ich mutiger werden. Vor allem bin ich Ansprechpartner für die Jungen, helfe ihnen bei der Integration im Team und erinnere sie, wenn nötig, daran, dass Disziplin auf Profistufe wichtig ist.

Wenn Ihnen vor drei Jahren jemand gesagt hätte, dass Sie im Frühling 2021 immer noch mit dem FC Aarau in der Challenge League spielen – wären Sie einverstanden gewesen?
Ich bin zufrieden mit meiner Situation, ich habe eine wichtige Rolle und mit dem FCA sind wir auf einem guten Weg, in absehbarer Zeit in die Super League aufzusteigen. Als Jungprofi hat man sehr hohe Ziele und sieht bei Gleichaltrigen, wie schnell es mit dem Wechsel in die Super League oder ins Ausland gehen kann. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, das hätte ich damals nicht auch gewollt. Rückblickend bin ich realistisch, es gibt Gründe, für die ich teilweise selber verantwortlich bin, warum bislang noch nichts aus einem Transfer geworden ist.

Konkret?
In der Saison 2019/20 war ich nicht gut genug. Zudem haben – abgesehen von den Topcracks – Aussenverteidiger ein schwieriges Los, was Transfers angeht: Erst wenn in den eigenen Reihen wirklich kein brauchbarer Kandidat zu finden ist, schauen Klubs sich extern um.

Im Sommer 2019 haben Sie zur Berateragentur des ehemaligen Nationalspielers Philipp Degen gewechselt. Warum?
Kurz nach dem damals verpassten Aufstieg mit Aarau gab es Gespräche mit Vereinen aus der Super League. Ich war nicht glücklich, wie es damals verlaufen ist, und bin dann zu SBE Management gewechselt. Ich erwarte, dass die neuen Leute mir bei der Erfüllung meiner Träume helfen. Aber damit sie helfen können, muss ich gut spielen.

Nun haben Sie kürzlich Ihren im Sommer auslaufenden Vertrag in Aarau verlängert. Doch nur bis 2022 statt langfristig. Warum?
Ich wollte nicht ohne Vertrag für die kommende Saison in die Rückrunde starten. Das hätte mich in der Coronazeit verunsichert und in meinen Leistungen gehemmt. Was im Sommer oder im Sommer danach passiert, werden wir sehen. Wechseln, damit gewechselt ist, kommt jedoch nicht in Frage. Die Atmosphäre in Aarau, der Offensivfussball und die Perspektive, dass noch viel mehr möglich ist, sind Argumente, die ein anderer Klub erst einmal toppen muss.

Trotzdem: Was trauen Sie sich zu, und wie lange geben Sie sich Zeit für einen Wechsel, ehe Sie sich für den Weg «für immer FC Aarau» entscheiden?
Die Bundesliga oder die Premier League sind wohl eine Nummer zu gross. Alles andere traue ich mir zu, körperlich bin ich dank des Trainings hier auf hohem Niveau. Um herauszufinden, ob es in der Super League oder noch höher wirklich reicht, brauche ich aber die Möglichkeit, mich auf diesem Level zeigen zu dürfen. Ich werde in diesem Jahr 24, wenn ich bis 27 den Sprung nach oben nicht geschafft habe, muss ich meine Ziele wohl revidieren.

Heisst?
Hoffentlich noch viele schöne und erfolgreiche Jahre in Aarau. Und neben dem Platz gilt es dann, die Zeit nach der Karriere vorzubereiten.