
Renata Siegrist wird Grossratspräsidentin: «Ich bin mit Herz und Seele Zofingerin»
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Als Vertreterin einer Nicht-Regierungspartei umso mehr, denn diesen steht das Grossratspräsidium nur alle neun Jahre zu. Die Zeit sei jetzt günstig, sagt Siegrist: Ihre Kinder sind erwachsen, sie selber ist beruflich selbstständig.
Renata Siegrist sieht arbeitsintensiven Monaten entgegen, stellt sich das Jahr 2019 aber auch erfüllend vor, weil sie als Grossratspräsidentin das tun wird, was sie am liebsten macht: unter Menschen sein und mit Menschen arbeiten.
Zwei Dinge haben Renata Siegrist-Bachmann geprägt: Erstens, dass sie Kind einer Ausländerin war und zweitens, dass sie viel Zeit in Entwicklungsländern verbracht hat. Jetzt steht ein weiteres Kapitel in ihrem Leben an, das auch einschneidend werden könnte. Denn heute wird die grünliberale Grossrätin Renata Siegrist aller Voraussicht nach vom Parlament zur Grossratspräsidentin gewählt. Damit wird sie während eines Jahres den Kanton als höchste Aargauerin nach aussen und innen vertreten.
Vor zwei Jahren wurde Siegrist zur zweiten Vize-Präsidentin gewählt, war 2018 Vizegrossratspräsidentin und wird jetzt, wie es Usus ist, ins höchste Amt gewählt. «Ich bin überrascht, dass mir der Grosse Rat diese Ehre zukommen lässt», sagt Renata Siegrist.
Von Zofingen nach Südafrika
Renata Siegrist ist in Zofingen geboren und aufgewachsen, seit fast 30 Jahren lebt sie wieder dort. Sie ist die Älteste von drei Geschwistern, dazu haben bei der Familie Pflegekinder gelebt und die Mutter hatte stets ein offenes Haus. Sie sei behütet aufgewachsen, wenn auch nicht wohlhabend. Die Mutter von Renata Siegrist stammte aus dem Südtirol. Dort, wo noch der romanische Dialekt Ladinisch geredet wird, hat Renata Siegrist jeweils die Sommerferien beim Grossvater auf dessen Bauernhof verbracht und bereits als Kind drei Sprachen gesprochen.
Dass ihre Mutter im biederen Zofingen der 1960er Jahre eine Ausländerin war, bekam Renata Siegrist aber zu spüren: «Meine Geschwister und ich waren zwar durch und durch Schweizer, aber wir haben die Diskriminierung, die man damals ‹Tschinggen› entgegenbrachte erlebt», sagt sie. Rückblickend sei sie dadurch stärker geworden und habe gelernt, sich durchzusetzen und zu positionieren.
Mit 19 Jahren und abgeschlossener Lehre als Medizinische Praxisassistentin im Sack, wollte Siegrist der Kleinstadt entfliehen. Mit ihrem damaligen Freund und jetzigen Mann ist sie weggezogen, zuerst nach Baden, dann nach Winterthur und schliesslich nach Südafrika, wo es den Ehemann beruflich hin verschlagen hat. Das Leben als Expat sei eine «wunderbare Zeit» gewesen, wenn auch nicht nur leicht, denn das Land schlitterte kurz vor der Rückkehr der Familie 1990 an einem Bürgerkrieg vorbei. Die Faszination für Afrika ist geblieben, Siegrists reisen fast jährlich zurück und bleiben beeindruckt.
«Es ist hierzulande den Wenigsten bewusst, wie sehr wir auf der Sonnenseite stehen, während die Menschen an den meisten Orten der Welt gegen Armut und Korruption kämpfen müssen», sagt Renata Siegrist. Dass sie die Dritte Welt kennen gelernt hat, habe ihr Verständnis für andere Kulturen vermittelt, sowie Toleranz, Empathie und Wertschätzung für das gebracht, was sie hat.
Kanton kommt vor der Region
Dennoch weiss Renata Siegrist wo sie hingehört: «Ich bin mit Herz und Seele Zofingerin», stellt sie klar. Wo es «vernünftig» sei, werde sie sich auch als Grossratspräsidentin für ihren Bezirk starkmachen, schliesslich sei einem die Heimat immer am nächsten. Aber sie habe in erster Linie natürlich die Anliegen des ganzen Kantons im Fokus.
Siegrist sieht Parallelen zu ihrem Beruf als Feldenkrais-Pädagogin: «Ich kann nicht nur den Fuss von jemandem behandeln, wenn dieser schmerzt, sondern muss den ganzen Körper im Fokus haben», sagt sie. Nicht anders in der Politik: Um das Richtige für den Kanton als Ganzes zu erreichen, müssten Einzelinteressen, regionale wie persönliche, im Hintergrund bleiben und in einem grösseren Rahmen gedacht werden — egal ob bei der Gesundheitsversorgung oder in der Schulpolitik.
Renata Siegrists politische Themen liegen vor allem im Bereich Gesundheit und Soziales. Nach der Rückkehr aus Südafrika ist sie durch ihre Wahl in die Schulpflege zur Politik gekommen, zunächst bei der FDP. Sie verfolgt eine Politik der kleinen Schritte, um das grosse Ganze zu erreichen. So habe sie den Grundstein dafür gelegt, dass Zofingen heute ein solides Betreuungskonzept hat. «Ich bin stolz darauf, dass ich dieses Fundament vor langer Zeit legen durfte».
Der aus ihrer Sicht zu stark nach rechts driftenden FDP hat Siegrist nach neun Jahren Mitgliedschaft allerdings den Rücken gekehrt. Bei den neu gegründeten Grünliberalen (GLP) hat sie, nach einer kurzen Abstinenz, wieder eine politische Heimat gefunden und wurde für diese in den Zofinger Einwohnerrat gewählt. Von 2010 bis 2016 war sie Mitglied der Geschäfts- und Finanzprüfungskommission.
«Ich glaube, die GLP ist die Zukunftspartei. Sie zieht junge und gut ausgebildete Leute an, weil sie mit ihrer Haltung in vielen Bereichen dem Zeitgeist entspricht, ohne dabei radikal zu sein», sagt sie.
Im Grossen Rat hatte Siegrist seit ihrer Wahl 2013 Einsitz in der Kommission Gesundheit und Sozialwesen. Als Grossratspräsidentin übergibt sie diesen Sitz einer Fraktionskollegin. Vorstösse wird sie in diesem Jahr keine einreichen, mitdebattieren darf sie auch nicht.
Von der höchsten Aargauerin wird eine gewisse Neutralität erwartet, lediglich beim Abstimmen darf im Ratssaal mitbestimmt werden. Das war für Siegrist schon im letzten Jahr, als Vizepräsidentin der Fall, ganz leicht fällt es ihr aber nicht. «Es zerreisst mich manchmal fast, dass ich nicht mitdebattieren darf», sagt sie. Ganz ohne ihre Meinung wird der Grosse Rat im nächsten Jahr aber nicht auskommen, diese wird Siegrist über ihre Fraktion weiterhin einfliessen lassen.
Ein Parlament soll debattieren
Mit ihrem Vorgänger, FDP-Grossrat Bernhard Scholl, mag sich Renata Siegrist nicht vergleichen, auch wenn sie dessen Arbeit rühmt. Die Voraussetzungen seien jedoch zu unterschiedlich, als dass ein Vergleich zulässig wäre.
In Scholls Amtsjahr wurden viele Sitzungen mangels spruchreifer Traktanden nicht abgehalten. Das ändert sich 2019. Siegrist geht davon aus, dass die meisten Sitzungstermine wahrgenommen werden müssen, um die grossen Brocken, wie etwa die Spitalgesetzrevision oder die Steuergesetzrevision zu behandeln. Sie hoffe, dass sie möglichst selten den Stichentscheid fällen muss, sagt sie.
Ideal ist, wenn die Debatte so verläuft, dass ein klarer Mehrheitsentscheid gefällt wird.» Das Parlament bilde die ganze Aargauer Bevölkerung ab, also sollten die Beschlüsse so zustande kommen, dass die Anliegen der meisten Aargauerinnen und Aargauer berücksichtigt sind.
Dafür wünscht sich Renata Siegrist für ihr Amtsjahr vor allem eines: Ein Parlament, das die Debatte nicht scheut und Parlamentarier, die den Mut haben, ihre Meinung sowohl zu verteidigen, wie auch ihre Voten im Verlauf der Diskussion anzupassen, anstatt auf einer vorgefassten Partei- oder Kommissionsansicht zu beharren. «Ich möchte den Menschen Mut machen, zu ihrer eigenen Meinung zu stehen.»