Schlechtes Wahlresultat: FDP straft grünliberale Grossrats-Präsidentin Renata Siegrist ab

So viele Stimmen erhielten die Vorgängerinnen und Vorgänger von Renata Siegrist

Bernhard Scholl, FDP, 2018: 101 Stimmen
Benjamin Giezendanner, SVP, 2017; 133 Stimmen
Marco Hardmeier, SP, 2016: 125 Stimmen
Markus Dieth, CVP, 2015: 132 Stimmen
Thierry Burkart, FDP, 2014: 112 Stimmen
Vreni Friker, SVP, 2013: 136 Stimmen
Kathrin Scholl, SP, 2012: 128 Stimmen
Theo Voegtli, CVP, 2011: 107 Stimmen
Patricia Schreiber, Grüne, 2010: 117 Stimmen
Herbert H. Scholl, FDP, 2009, 128 Stimmen

Diejenigen, die mich nicht unterstützen wollten oder konnten, möchte ich trotzdem in das Versprechen einbinden, meine ganze Energie und Schaffenskraft in die Aufgabe als Präsidentin zu stecken und mit gebührendem Respekt gegenüber allen demokratischen Parteien und der Regierung zu walten.» Das sagte Grossratspräsidentin Renata Siegrist am Dienstag nach ihrer Wahl in ihrer Antrittsrede.

Sie sprach damit 41 Parlamentarier an. So viele hatten sie nicht gewählt. Siegrists Resultat von 96 Stimmen (von 137) bei einem absoluten Mehr von 69 ist das schlechteste der letzten 15 Jahre (siehe Bildergalerie oben). Seit 2005, als das Parlament auf 140 Mitglieder verkleinert worden ist, hat Vreni Friker (SVP) im Jahr 2013 mit 136 von möglichen 137 Stimmen das beste Resultat erzielt. Beinahe so gut war das Resultat von Kathrin Scholl (SP) mit 128 von möglichen 132 Stimmen im Jahr 2012. 

Renata Siegrist mag sich einen Tag nach der Wahl zur Präsidentin nicht damit aufhalten, dass ihr Resultat kein glänzendes gewesen ist. Sie könne darüber stehen, dass sie nicht von allen Grossräten gewählt worden ist, sagt Siegrist nur, «das ist Politik».

Wechsel von FDP zu GLP 

15 Parlamentarier haben sich enthalten, Vizepräsidentin Edith Saner (CVP) bekam 5 Stimmen, 21 Stimmen gingen an «vereinzelte» Personen, die zwischen einer und vier Stimmen erhielten. Wer diese sind und wie viele Stimmen sie jeweils erhalten haben, ist nicht bekannt. Einen möglichen Sprengkandidaten, der im Hintergrund aufgebaut worden ist, gab es bei der Wahl am Dienstag also nicht. Das legt den Schluss nahe, dass die Stimmen
gegen Siegrist gezielt waren. 

Renata Siegrist war bis Anfang 2008 Mitglied der FDP. Sie war für die Freisinnigen in der Schulpflege Zofingen und leitete in einem Co-Präsidium mit der heutigen Grossrats-Fraktionspräsidentin Sabina Freiermuth die FDP Frauen Zofingen. Nachdem im Stadtrat Zofingen ein Sitz frei geworden war und sich die FDP nach einem Hearing mit drei möglichen Kandidaten nicht für Renata Siegrist entschied, sondern die zwei anderen vorschlug, trat Siegrist aus der FDP aus. 

 

Einige Monate später trat sie den damals in Zofingen neu gegründeten Grünliberalen (GLP) bei. Für diese wurde sie im Herbst 2009 in den Einwohnerrat von Zofingen gewählt und 2013 in den Aargauer Grossen Rat. 

Vielerorts in der Schweiz sind vor zehn Jahren den neu gegründeten Parteien GLP und BDP nicht nur Neo-Politiker beigetreten, sondern auch Mitglieder anderer Parteien, die wechselten. Während dies bei der BDP bürgerliche Politiker waren, waren es bei der GLP eher Grüne oder Freisinnige. Die Wechsel geschahen selten mit dem Segen der Ex-Partei, sondern verursachten oft böses Blut. Prominentes Beispiel dafür war im Aargau Peter Schumacher, der 2009 als Grossrat von der FDP zur GLP übergetreten ist. 

Stimmen von rechts und links 

Wurden also Renata Siegrist Stimmen vorenthalten, weil der «Trennungsschmerz» bei der FDP noch zu gross ist? Klar scheint, dass die fehlenden Stimmen weder bei der SVP noch bei der SP zustande gekommen sind. «Ich gehe davon aus, dass von unserer Fraktion gegen 100 Prozent Renata Siegrist gewählt haben», sagt SVP-Fraktionspräsident Jean-Pierre Gallati. Er habe keine Hinweise darauf, dass von der mit 46 anwesenden Mitgliedern fast vollständigen SVP-Fraktion Stimmen an andere Grossräte gegangen wären.

Das finde er auch richtig so, sagt Gallati: «Es gehört sich, dass man diese Stimme gibt.» Auch bei den Sozialdemokraten habe man seines Wissens für Renata Siegrist gestimmt, sagt Co-Fraktionspräsident Dieter Egli. Er und seine Fraktionskolleginnen und -kollegen seien ob des eher schlechten Resultats überrascht gewesen. «Ich vertrete die Haltung, dass beim Grossratspräsidium alle Parteien im Turnus vertreten sein sollen, auch wenn man politisch anderer Meinung ist», sagt Egli. Präsidiumswahlen seien Personenwahlen, es gehe darum, ob jemand fähig sei, das Amt auszuüben, nicht um persönliche Animositäten. In der SP-Fraktion sei es kein Thema gewesen, die Stimmen jemand anderem als Renata Siegrist zu geben.

Die FDP verneint nicht 

Anders tönt es derweil tatsächlich bei den Freisinnigen. «In Anbetracht des Resultats ist es schon möglich, dass die FDP-Fraktion nicht geschlossen für Renata Siegrist gestimmt hat», sagt Sabina Freiermuth. Sie hält aber fest, dies sei in der Fraktionssitzung kein Thema gewesen. Wollte die FDP die grünliberale Siegrist Jahre später für ihren Parteiwechsel abstrafen? Fraktionschefin Freiermuth verneint das zumindest nicht. «Ob das einen Einfluss hatte, weiss ich nicht. Aber Parteiwechsel hinterlassen immer Narben», sagt sie. Derweil bestätigen der AZ mehrere Personen, dass verschiedene FDP-Fraktionsmitglieder Renata Siegrist nicht wählen wollten und das auch durchgezogen hätten. 

Ob es am Parteiwechsel vor fast zehn Jahren liegt oder ob aus der Zeit in der FDP Zofingen auch persönliche Narben bestehen, bleibt Spekulation. Weder Renata Siegrist noch Sabina Freiermuth äussern sich dazu. 

Die FDP-Fraktion im Grossen Rat hat 22 Mitglieder. Selbst wenn die gesamte Fraktion gegen Siegrist gestimmt hat, haben 19 weitere Grossräte das Gleiche getan. Wer dies war, bleibt wegen des Stimmgeheimnisses offen.