
Schützin Nicole Häusler aus Pfaffnau treibt trotz und wegen Multipler Sklerose Sport
Sehnerventzündungen liessen sie auf dem rechten Auge zeitweilen erblinden, weshalb sie heute mit dem linken die Scheibe avisiert. «Das war eine grosse Umstellung», sagt Nicole Häusler. Ihre Mutter sagt über die ältere ihrer beiden Töchter: «Sie konnte sich schon immer gut an neue Situationen anpassen und ist eine Frohnatur geblieben. Aber klar, auch bei ihr gibt es dunkle Momente.»
So wie vor den Paralympics 2016. Wenige Wochen vor ihrer Reise nach Rio de Janeiro und der Teilnahme am Grossevent erlitt Nicole Häusler einen heftigen MS-Schub, der ihre Sehstärke massiv beeinträchtigte und sie von einer Finalqualifikation abbrachte. «Es war frustrierend, dass ich nicht zeigen konnte, was ich drauf habe», sagt die mehrfache Schweizer Meisterin, «die MS hat mir mal wieder einen bösen Streich gespielt.» Die Sportkarriere zu beenden, sei nie zur Diskussion gestanden. «Der Sport gibt mir Selbstvertrauen, verschafft mir Wertschätzung. Ich sehe, was möglich ist und tanke Kraft, dafür zu kämpfen, mich nicht einschränken zu lassen», sagt Nicole Häusler. So versuchte sie sich unlängst im Tandem-Gleitschirmfliegen und wagte sich wieder ans Tauchen heran. Mit Mentaltraining und Physiotherapie hält sie sich fit und versucht, dem MS-bedingten Kraftabbau und der Unbeweglichkeit entgegenzuwirken. Mit dem Vorspannbike, einem veloähnlichen Adapter für den Rollstuhl, dreht sie oft Runden um Pfaffnau.
Paralympics 2020 sind ihr Ziel
Nach Feierabend – Nicole Häusler arbeitet vormittags als Radiologiefachfrau im Spital Region Oberaargau in Langenthal – fährt sie nach Lotzwil ins Schützenhaus, ins Indoor-Schiesssportzentrum in Luzern, ins Schützenhaus nach Kölliken oder ab und zu in die Schiessanlage Brünig Indoor in Lungern. Dort trainiert sie mit dem Kleinkaliber- oder mit dem Luftgewehr. Letzteres ist ihr Paradegerät, mit dem sie in den Disziplinen liegend (mit auf einem Tisch aufgestützten Armen) und stehend (im Rollstuhl sitzend, aber ohne Auflage) antritt. Im Mai realisierte Nicole Häusler an den Weltmeisterschaften der Para-Sportschützen im Südkoreanischen Cheongjiu einen Quotenplatz für die Schweiz für die Paralympischen Spiele 2020 in Tokyo. «Ich tue alles dafür, dort dabei zu sein», sagt Nicole Häusler. Derzeit tüftelt sie mit einer Schneiderin an einer neuen Schiessjacke und ihr persönlicher Schiesstisch soll im Paraplegikerzentrum Nottwil weiterentwickelt werden. Ob sie ein neu auf den Markt gekommenes MS-Medikament testen wird, weiss Nicole Häusler noch nicht. Zu gross ist derzeit der Respekt vor Nebenwirkungen. «Und was die Anti-Doping-App dazu sagen würde, habe ich noch gar nicht getestet», sagt sie, lacht und hofft, dass die Multiple Sklerose möglichst lange wartet, ehe sie ihr den nächsten Streich spielt.
Der Finger liegt am Abzug. Nicole Häusler zielt. Wartet. Es ist mucksmäuschenstill im Schützenhaus der Sportschützen Lotzwil-Langenthal. Dann knallt es. Nicole Häusler schaut dem Schuss einen Moment hinterher, richtet den Blick dann auf den Monitor rechts neben ihr. Auf der abgebildeten Scheibe ist ihr Treffer eingezeichnet, er wird mit 9,7 angegeben. «Ich dachte, es hätte weiter links eingeschlagen», sagt die Pfaffnauerin. Es ist eine Szene aus dem Trainigsalltag einer Sportlerin, die eigentlich ganz normal scheint. Bis man genauer hinschaut. Nicole Häusler sitzt im Rollstuhl. Ehe sie den nächsten Schuss abgeben kann, braucht sie beim Laden des Kleinkalibergewehrs Hilfe. An jenem Nachmittag unterstützt ihre Mutter sie beim Munitionsnachschub und dabei, das Sportgerät in den Koffer zu verstauen, die Schiessjacke auszuziehen und das Material ins rollstuhltauglich umgebaute Auto einzuladen.
Aufgeben oder kämpfen?
Nicole Häusler hat Multiple Sklerose (MS), die sie so beschreibt: «Mein Immunsystem hat etwas gegen meine Nerven. Und diese Antipathie kann alle Nerven betreffen.» Die neurologische Krankheit schreitet chronisch fort. Unterschiedliche Symptome treten auf, aus denen sich verschiedene Behinderungen entwickeln können: Seh- und Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen an Beinen, Armen und Händen, Schmerzen sowie Blasen- und Darmstörungen, Sensibilitätsstörungen, Konzentrationsschwächen oder die sogenannte «Fatigue», ein starkes Erschöpfungssyndrom. «Letzteres macht es mir nicht immer einfach», sagt Nicole Häusler, «ich muss mir meine Kräfte tagtäglich gut einteilen.» Frauen sind doppelt so oft von der bis heute unheilbaren MS betroffen wie Männer. Bei gewissen Patienten schlagen verlaufsverzögernde Medikamente an. «Bei mir bisher nicht», sagt Nicole Häusler. Bei ihr begann alles mit Gefühlsstörungen im linken Bein, später kamen welche im linkten Arm dazu. Am 10. Februar 2006 erhielt die bald 39-Jährige im Unispital Basel die Diagnose. «Auf der Heimfahrt liefen mir natürlich Tränen übers Gesicht», sagt sie, «aber ich sagte damals im Auto zu mir: du hast zwei Möglichkeiten: aufgeben oder kämpfen.»
Seither geht die Luzernerin jedes Jahr am 10. Februar mit ihren Eltern essen. «Es ist nicht so, dass ich eine Art zweiten Geburtstag feiere», betont sie. Aber zum einen sei sie froh, dass sie an jenem Tag Gewissheit erhielt, woher ihre Beschwerden kommen. «Und obwohl die MS böse ist und ich manchmal denke, sie will mir versauen, was mir Spass macht, kann ich sagen: Ich habe durch die Krankheit auch Positives erlebt und Menschen getroffen, deren Wege ich sonst nie gekreuzt hätte.»

Damit meint Nicole Häusler auch den Sport. Früher fuhr sie Radrennen, besuchte Hornusseranlässe, liebte es, mit dem Töff unterwegs zu sein. Zwei Jahre nach der Diagnose konnte sie sich noch mithilfe von Krücken fortbewegen, ehe der Rollstuhl zum ständigen Begleiter wurde. Mit dem Töfffahren wars vorbei. «Das ist das einzige, was ich heute manchmal vermisse.» Im Rollstuhlcurling fand sie eine neue sportliche Herausforderung – ehe ein weiterer MS-Schub zu einer Lähmung des rechten Arms führte. Als Bewegungsmensch und Person, die «lieber unterwegs ist als zuhause herumliegt», suchte Nicole Häusler nach einer neuen Disziplin. Als ihr Sportschiessen empfohlen wurde, war die in Aarwangen aufgewachsene Luzernerin erst skeptisch. «In meiner Familie gab es keine Schützen und ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand.» Dann nutzte sie doch die Chance auf ein Probetraining im rollstuhlgängigen Schiessstand der Sportschützen Kölliken. Nicole Häusler bewies Talent – obwohl das Schiessen in verschiedener Hinsicht herausfordernd war. Als Rechtshänderin musste Nicole Häusler mit der linken Hand schiessen und den Abzug mit dem Zeigefinger betätigen, an dem sie oberflächlich nichts mehr spürt. «Der Impuls, wann ich abziehe, ist bei mir ein automatisierter, antrainierter Vorgang und nichts, das ich aus dem Gefühl heraus mache.»
