
Schwitzen? Beim Schach höchstens aus Nervosität – Teil 3 der Sommerserie «Sport oder nicht»
Schach in der Schweiz
Der Schweizerische Schachbund (SSB) vereint 238 Schachclubs und 5893 Mitglieder. Er ging 1995 aus der Fusion des Schweizerischen Schachverbandes (gegründet 1889) und des Schweizerischen Arbeiterschachbundes (gegründet 1923) hervor. Der SSB führt jedes Jahr einige Turniere und Meisterschaften durch, an denen geschützte Meistertitel vergeben werden. Zum SSB gehört auch der Schachklub Zofingen, der etwa 40 Mitglieder zählt. Interessierte Frauen und Männer mit Grundkenntnissen sind jederzeit willkommen, etwa bei einem Spielabend immer dienstags ab 19.30 Uhr im «Ochsen» in Zofingen. Der Schachklub Zofingen (www.skzof.ch) ist Mitorganisator des 33. Mittelland-Turniers im Zofinger Stadtsaal am 20. Oktober 2019.
Ein Pferd hochheben und umplatzieren oder einen Turm verschieben – das tönt nach Schwerstarbeit. Tatsächlich tropft Clemens Wymann beim Ausführen jener Handlungen der Schweiss von der Stirn. Willkommen beim Gartenschach, einer speziellen Art des königlichen Spiels mit den weissen und schwarzen Figuren. Doch halt. Körperlich anstrengend ist das Rotieren von Pferden und Türmen auf der Anlage des Schachklubs Zofingen bei der Credit-Suisse eigentlich nicht. Die 32 Figuren sind alle aus Kunststoff und der König, der alle andern überragt, wiegt weniger als ein Kilo. Anstrengend sprich schweisstreibend ist die Sache an jenem Abend, weil das Thermometer auch nach 19 Uhr noch 34 Grad anzeigt. «Sonst kommt man beim Schach normalerweise nicht ins Schwitzen, höchstens aus Nervosität», sagt Clemens Wymann.
Er fand als Bub durch seinen Bruder zum Schach und trat als 20-Jähriger dem Schachklub Zofingen bei. Das Gartenschach mag er, weil es draussen stattfindet und man stehend statt am Tisch sitzend Dame, Bauer und Läufer bewegt. «Zudem sind die Figuren und das Feld grösser, was nebst dem ungewohnten Blickwinkel eine ganz andere Perspektive auf das Spiel verschafft.» An einer Partie ändert das ungewohnte Terrain wenig. «Ein falscher Zug kann dir die Niederlage bescheren. Du musst bis am Schluss konzentriert sein. Am Ende stehst du unter Druck, wenn die Bedenkzeit abläuft, dann musst du schnell denken und schnell spielen», umschreibt Clemens Wymann, was ihn an jenem Abend bei der Outdoor-Variante gegen seine Clubkollegen fordert und ihn ganz allgemein am Schach fasziniert. «Schach ist kreativ, jede Partie ist anders», schwärmt der 47-Jährige weiter, «die Vielseitigkeit begeistert mich, die Figuren haben unterschiedliche Zugmöglichkeiten, es gibt überraschende Wendungen und der Zweikampf mit dem Gegenspieler ist äusserst spannend.» Das tönt doch sehr sportlich.
Doping zum Wachbleiben und Schummeln mit dem Handy
Ist Schach also Sport? «Das ist eine Definitionsfrage», sagt Clemens Wymann, «was heisst Sport? Schach ist Denksport. Aber ob Sport oder nicht, diese Einteilung interessiert mich nicht.» Er sei nicht beleidigt, wenn jemand infrage stelle, ob sein Hobby Sport sei. Aber man müsse wissen, dass eine Turnierpartie mal mehrere Stunden dauern könne. Und dass die besten Schachspieler, die Grossmeister, durchaus ins Fitnessstudio gehen. «Wenn du physisch ‹zwäg› bist, bist du auch mental länger frisch», weiss Clemens Wymann.

Kraft, Kondition oder Athletik sind für Erfolge am Brett selbstredend nicht entscheidend. «Analytisch denken zu können, ist wichtig», betont Clemens Wymann, «im besten Fall ist man dem Gegner einen Schritt voraus, kann ihn so überlisten.» Dann hilft ihm persönlich das Schachspiel im Berufsleben? Jedenfalls prangern auf der Webseite des Notars und Anwalts Wymann Schachfiguren, dazu die Worte: «Ihr Rechtsanwalt – mit überlegten Zügen zum Ziel.» Der Thutstädter lacht. «Den Gegner austricksten will ich nicht als Anwalt. Aber hellwach zu sein bis zum letzten Zug im Schach ist mit meiner Arbeit vergleichbar.»
Verlgeichbar ist auch Schach gewissermassen mit anderen Sportarten. Es gibt klare Regeln, limitierte Bedenkzeit – und Doping ist verboten. In der Schweiz unterzeichnen zumindest die Spieler in der Nationalliga A seit 2003 eine Erklärung, auf verbotene Substanzen zu verzichten. «Müdigkeit-unterbindende Präparate könnten einen bevorteilen», erklärt Clemens Wymann. Ein unerlaubtes «Hilfsmittel» ist auch das Smartphone, das während einer ganzen Partie – auch bei allfälligen Toilettengängen – ausgeschaltet bleiben muss. «Doping und Handymissbrauch sind auf unserem Niveau aber sicher kein Thema«, sagt Wymann. «Sein» Schachklub Zofingen tritt in der 3. Liga der Schweizerischen Mannschaftsmeisterschaft an, in der es sechs Ligen gibt. Imposantes Preisgeld ist da ebensowenig zu holen wie in den Schweizerischen Einzelmeisterschaften, in der Schweizerischen Gruppenmeisterschaft oder an den Einzelturnieren hierzulande. Ausnahmen sind Grossanlässe wie das Internationale Schachfestival Biel, das heute zu Ende geht. «Vom Schachspielen leben kann in der Schweiz wohl keiner», sagt Clemens Wymann. Nur etwa die besten 20 Spieler der Welt verdienen wirklich gut, allen voran der Norweger Magnus Carlsen (28). Der aktuell beste Spieler der Welt, seit 2013 viermal Schach-Weltmeister, ist zu einer Art Marke geworden. Sein Vermögen wird auf 10 Mio. Euro geschätzt. Andere verdienen ihr Geld im Schach durch Trainertätigkeit, indem sie Lehrvideos produzieren und verkaufen, Schachblogs führen, wie Magnus Carlsen Apps programmieren lassen oder 1:1-Unterricht geben.
Schach kann man ein Leben lang spielen und geflucht wird nicht
Die rund 40 Mitglieder des Schachklubs Zofingen – 18 Aktive – lernen am liebsten voneinander. Immer dienstags treffen sie sich im Restaurant Ochsen in Zofingen zum Spielabend. «Spass und Kameradschaft stehen im Vordergrund, wir sind alles andere als verbissen», betont Clemens Wymann, der den Verein seit 15 Jahren präsidiert. «Nach der Partie lacht man zusammen, analysiert die Spielzüge, diskutiert und lernt so.» Durch den persönlichen Austausch besser zu werden, sporne Menschen jeglichen Alters an. Das sei eine weitere Einzigartigkeit des Schachs: «Hier sind – anders als in anderen Sportarten – faire, generationenübergreifende Duelle möglich», betont Clemens Wymann, «ein Zehnjähriger kann einem Achtzigjährigen auf Augenhöhe begegnen.» Schach könne man ein Leben lang spielen, und die Kosten halten sich in Grenzen. «Schach ist günstig, du brauchst ja keine Ausrüstung und die Bretter und Figuren bleiben ewig einsetzbar.» Es sei auch ein Klischee, dass man aussergewöhnlich intelligent sein müsse, um im Schach Siege zu feiern. «Nebst den Taktikern gibt es intuitive Spieler, Querdenker, die auch schwierig lesbar sind und die du erst einmal schlagen musst.»
So einer ist Clemens Wymanns Gegner an besagtem Abend am Zofinger Gartenschach-Turnier, das vom 17. Juni bis zum 14. August läuft. Erst kurz vor Ablauf der 30-minütigen Bedenkzeit, nach ausgeglichenem Duell, setzt ihn Wymann schachmatt. «Gut gespielt», lobt er den Unterlegenen, «du musst immer die ganze Partie betrachten, nicht nur das Ende.» Als die nächsten beiden Clubmitglieder loslegen, hört man wieder nur die Bedenkzeit-Uhr ticken, hin und wieder einen Vogel zwitschern. Geredet wird nicht. Reklamieren und fluchen ist Tabu. Ob Sport oder nicht – zumindest dies könnten andere Disziplinen vom Schach übernehmen.