
Sehr begehrte Leser
Sehr geehrte Frau Leserin, sehr geehrter Herr Leser. Sind Sie erstaunt über diese höfliche Anrede? Ich auch. Und das bei jeder E-Mail, die ich in diesem Wortlaut erhalte. Ich schreibe dann meistens mit Sehr geehrte Frau … zurück – nur um respektvoll zu sein. Aber eigentlich ist es mir zuwider, jemanden zu verehren – vor allem jemand Fremdes. Authentizität ist mir wichtig: Also müsst ich konsequenterweise auf die Knie gehen, um diese Worte in den Bildschirm zu tippen. Sehr anstrengend. Können wir nicht aufhören damit? Ich schreibe täglich Dutzende E-Mails und müsste dabei vielen Menschen die Ehre erweisen, die vielleicht ganz unehrenvoll handeln. Zudem muss ich immer zweimal schauen, ob ich geehrt richtig geschrieben habe, ist ja auch schwierig zu tippen. Ich möchte aber auch nicht «Lieber Herr …» schreiben. Liebe, Ehre – das sind mir einfach zu grosse Worte für etwas Alltägliches wie ein E-Mail. Ich könnte – wie in der Werbebranche üblich – einfach alle mit Du ansprechen. «Hallo Regierungsrat». Zu salopp? Ok, funktioniert auch nicht. Wie wär’s mit: «Sehr begehrte Frau …». Wer will schon nicht begehrt werden? Zu anrüchig? Ach, ich schreibe guten Tag. Fertig. Und der Schluss ist zum Glück unverfänglich. Freundliche Grüsse.
✒ Bsetzistei ist die wöchentliche Kolumne der Redaktorinnen und Redaktoren des Zofinger Tagblatts und der Luzerner Nachrichten.