
«Siedlungscoach» über Kinderlärm in Rösslimatte: «Die Verwaltung hat es einfach nicht besser gewusst»
Was haben Sie gedacht, als Sie vom «Fall Rösslimatte» gelesen haben?
Katharina Barandun: Es ist ein ganz klassischer Fall, eine solche Ausgangslage haben wir oft. Sogar noch viel dramatischer.
Ist der Fall also gar nicht so speziell?
Nein. Ich bin überzeugt: Viele haben den Artikel gelesen und gedacht: Genau so ist es auch bei uns. In Zürich, gerade bei Genossenschaften, arbeitet man deswegen schon länger mit Siedlungscoaches zusammen. Aber im Aargau kennt man das Problem schlicht nicht. Deshalb sind alle überrascht, dass die Securitas engagiert wurde.
Dann finden Sie diese Massnahme nicht unverhältnismässig?
Zuerst muss man sagen: Immerhin hat die Verwaltung reagiert. Sie hätte auch einfach nichts tun können. Aber sie hat reagiert, sie hat es einfach nicht besser gewusst. Die Securitas mit ihrer Uniform fährt schnell ein, die Lösung ist aber sicher nicht nachhaltig. Diese Massnahme ist eine Illusion. Weil weder die Kinder, noch die Eltern, noch die Personen, die sich am Lärm stören, etwas an der Situation verändern. Was es braucht, ist, dass die Gemeinschaft Verantwortung übernimmt und dass sie miteinander Lösungen suchen.
Wie wären also Sie vorgegangen?
Zuerst würde ich vor Ort mit den Leuten ins Gespräch kommen. Dann mache ich mit standardisierten Fragebögen eine Analyse: Wo liegen die Probleme? Und welche Ressourcen habe ich? Nach der Befragung kristallisieren sich einige Hauptproblempunkte heraus. Einer davon kann etwa Kinderlärm sein. Dann brauche ich die Leute, die dort wohnen. Ich mache nichts ohne sie. Ich teile sie gruppenweise den Themen, die sie interessieren, zu. Gemeinsam schaffen wir dann Massnahmen. Es ist ganz wichtig: Ohne Verantwortlichkeiten gibt es bei Siedlungscoaches gar nichts. Die Leute selbst müssen die Probleme lösen. Ich helfe Ihnen nur.
Und wenn die Leute nicht mitmachen wollen?
Es kann auch sein, dass ich zur Verwaltung zurückgehe und sagen muss: Die Leute wollen nicht mithelfen. Dann bin ich die falsche Person. Das habe ich allerdings noch nie erlebt. Ich bin noch nie jemandem begegnet, der gesagt hat: Mir ist egal, dass hier Krieg ist. Die Leute wollen dort, wo sie wohnen, Ruhe und Ordnung. Nur werden darunter ganz verschiedene Dinge verstanden.
Braucht es Sie wirklich? Haben die Menschen verlernt, miteinander zu reden und die Probleme selbst zu lösen?
Die Gesellschaftsstruktur hat sich in den vergangenen Jahren ganz stark verändert. Zum einen durch die Verdichtung, sehen Sie sich etwa das Limmattal an. Wenn plötzlich dort, wo ich aufgewachsen bin, hunderte Leute mehr wohnen, muss ich damit umgehen können.
Und zum anderen?
Wir sind zu Individualisten geworden. Wir sind mobil, haben Freunde in London, Tokio, Paris. Wir reisen hin und her und gehen nur nach Hause, um zu schlafen. Es interessiert uns nicht mehr, wer unser Nachbar ist. Konflikten konnte man damit vielleicht ausweichen. Aber wegen Corona war das plötzlich nicht mehr möglich. Ich bin überzeugt, dass die Menschen ihre Probleme selbst lösen können. Aber Nachbarschaft ist eine sehr heikle Angelegenheit. Man will keinen Streit mit dem Nachbarn, weil dies die Lebensqualität beeinträchtigt. Dann ist es gut, wenn jemand von aussen alle gemeinsam mit auf den Weg nimmt.
Ich kann Sie also buchen, wenn es in meinem Quartier Probleme gibt?
Ja. Noch besser wäre es allerdings, man würde mich bereits beim Bau der Siedlung mit einbeziehen. Wie der Aussenraum bespielt wird, hat einen grossen Einfluss auf das Zusammenleben. Ich habe einmal in einer Siedlung gearbeitet, da war der ganze Spielplatz ein einziger Sandkasten. Für die Kinder war es super, sie haben sich die Taschen gefüllt, gingen in die Blöcke, die Lifte waren immer kaputt. Für viel Geld musste der Platz dann umgebaut werden. Ich weiss auch nicht alles, aber ich kann aufgrund meiner Erfahrung zum Beispiel sagen: Bauen sie dort keine Mauer. Oder bauen sie einen Gemeinschaftsraum. Es lohnt sich.
In Buchs gibt es auch Parteien, die Migranten die Schuld gegeben haben.
Oftmals wird die Schuld Migrantenfamilien gegeben. Das ist nicht richtig. Was fehlt, ist die Kommunikation mit diesen Leuten. Migranten wollen, genau gleich wie Schweizer dort, wo sie wohnen, Ruhe haben. Dort kann man ansetzen. Aber wenn man sie mit ins Boot holen will, darf man sie nicht stigmatisieren. Solange man sie stigmatisiert, kann man nicht erwarten, dass sie Teil der Lösung sind.
Ich lade sie speziell zu Gruppensitzungen ein, so dass sie sich am runden Tisch auf Augenhöhe treffen können. Das sind jeweils schwierige Diskussionen, dort «klöpft und tätscht es». Der grösste Schritt ist immer, die Betroffenen zu Beteiligten zu machen. Dann muss jeder von seinen Vorstellungen etwas herunterkommen. Und selber Verantwortung übernehmen.
Zur Person
Ursprünglich Sozialarbeiterin im Sucht- und im Asylbereich, arbeitet Katharina Barandun seit 15 Jahren als Siedlungscoachin. Teils für Genossenschaften, teils privat auf dem freien Markt, versucht sie, die Menschen in Siedlungen so zu unterstützen, dass ein erträgliches Zusammenleben möglich ist. Die 55- Jährige wohnt in Ennetbaden und betreibt ein BnB.