
Simon Enzler: Vor der wichtigsten Saison der Karriere
Hat der FC Aarau ein Goalieproblem? Die Frage spaltete in der vergangenen Saison, in der die Mannschaft historische 80 Gegentore kassierte, die Meinungen. Die einen finden, Eigengewächs Nicholas Ammeter sei ein vielversprechendes Talent, das unter dem Unvermögen der Vorderleute gelitten habe. Für die anderen hat Ammeter in der ersten Profisaison seine Tauglichkeit nicht nachhaltig unter Beweis stellen können.
Sportchef Sandro Burki gehört zur ersten Gruppe, er hat Ammeter stets durch alle Böden verteidigt und die Kritik als überzogen bezeichnet. Doch der erste und bislang einzige Neuzugang für die neue Saison, den der FC Aarau bekannt gegeben hat, ist ein Goalie: Simon Enzler, 22-jährig, ausgeliehen vom FC Luzern.
«Wir wollten mehr Qualität auf der Goalieposition», sagt Burki und präzisiert: «Nicholas hat eine gute erste Saison hinter sich. Nun ist mit Simon ein Konkurrent auf Augenhöhe da, das hilft uns und vor allem auch Nicholas. Stand jetzt haben wir keine Nummer 1, im ersten Saisonspiel wird der Bessere im Tor stehen.» Ein Indiz könnte die Nummernverteilung sein: Enzler trägt beim Trainingsstart die Kleider mit der vergangene Saison verwaisten Nummer 1, während Ammeter bei der 12 geblieben ist.
«Nein, das sind nur Zahlen und bedeutet gar nichts», winkt Enzler ab und grinst. Eine Stunde Autofahrt liegt hinter ihm, der im Elternhaus in Unterägeri am Zugersee wohnt, als wir ihn im Brügglifeld treffen. «Ich schätze die Zeit alleine im Auto, sie hilft vor dem Training beim Fokussieren und danach beim Abschalten.» Er bestätigt Burkis Worte, wonach er sich beim FCA in einen offenen Zweikampf ums Tor begeben habe. Und dies, obwohl er sich vor der Anfrage aus Aarau mit einem anderen Challenge-League-Klub einig war, zu dem er als Stammkraft gewechselt wäre. «Aber der FC Aarau, das Brügglifeld, da kribbelt es im Bauch. Ich erinnere mich, wie in der vorletzten Saison mit dem SC Kriens die älteren Spieler uns Junge zusätzlich heissgemacht haben vor den Spielen in Aarau, das Brügglifeld war immer ein Erlebnis. Ich bin zuversichtlich und überzeugt, dass ich mich hier durchsetzen und Stammgoalie sein werde.»
Beim Klub aus dem Luzerner Vorort, der im Schatten des grossen Bruders FC Luzern steht, machte sich Enzler über die Innerschweiz hinaus einen Namen. In der Rückrunde der Saison 2018/19 war er nach anfänglichen Startschwierigkeiten gesetzt und spielte so gut, dass sein Trainer Bruno Berner sagte: «Enzler ist der beste Goalie der Challenge League.»
Im Erfolgsfall stehen ihm mehrere Türen offen
Das Jahr in Kriens war Enzlers erstes mit Einsätzen auf Profiniveau. Zuvor hatte er beim FC Luzern als dritter Goalie hautnah die Ablösung von Klubikone David Zibung durch Jonas Omlin erlebt, gelehrt habe ihn der lange undenkbare Vorgang dies: «Es gibt keine unüberwindbaren Hürden.» Auch Omlin verdiente sich die Sporen in der Challenge League, ehe er in Luzern durchstartete, später beim FC Basel Nationalspieler wurde und vor kurzem einen Millionenvertrag in Montpellier unterschrieb. Imponiert vom Weg seines Kollegen, machte sich Enzler im Sommer 2019 nach der Rückkehr aus Kriens Hoffnungen auf den Stammplatz im FCL-Tor. Doch der damalige Trainer Thomas Häberli wollte Erfahrung statt Entwicklung, zwei Wochen vor Saisonbeginn bekam Enzler Marius Müller vor die Nase gesetzt, geholt vom Bundesliga-Topklub RB Leipzig. Mit einem Jahr Abstand sagt Enzler: «Ich hätte mich klarer positionieren und den FCL-Verantwortlichen sagen müssen: Entweder setzt ihr auf mich oder leiht mich erneut aus. Aber nicht jeder junge Spieler ist ein Lautsprecher und stellt unverblümt Forderungen.»
Nach der ersten Enttäuschung nimmt Enzler die Rolle als Ersatzgoalie an und nützt das Jahr zum Lernen: von Marius Müller und dessen deutscher «Brust raus»-Mentalität, zwischen den Trainings geht er in die Ernährungsberatung und ins Mentaltraining. Heute sagt er, auch ohne Spielpraxis ein besserer Goalie geworden zu sein: «In der Kabine werde ich nie der Lauteste sein. Entscheidend ist – und das habe ich gelernt: Auf dem Platz lege ich den Schalter um, verleihe der Mannschaft mit den richtigen Worten und mit meiner Ausstrahlung Sicherheit.» In seinen Augen sei das Gefühl, dass ein Goalie seinen Vorderleuten gebe, mit die wichtigste Eigenschaft seiner Berufsgattung: «Die Mitspieler müssen wissen: Da steht einer im Tor, der nicht jeden Schuss reinlässt.»
Enzler kategorisiert die nächste Saison als bislang wichtigste seiner jungen Karriere. Verständlich: Wenn er sich gegen Ammeter durchsetzt und zum sicheren Rückhalt der umgebauten Aarauer Abwehr wird, stehen ihm im nächsten Sommer mehrere Türen offen: a) Der FC Aarau verpflichtet ihn fest, b) Der FC Luzern verlängert Enzlers auslaufenden Vertrag und holt ihn als Stammgoalie zurück oder c) Ein anderer Klub aus der Super League wird auf ihn aufmerksam. Enzler sagt: «Der FC Aarau ist der ideale Ort, um mich für höhere Aufgaben zu empfehlen. Das kann auch eine Vertragsverlängerung und in absehbarer Zeit der Aufstieg mit Aarau in die Super League sein.»
Kein Lautsprecher, aber ein wacher Geist und klare Vorstellungen von dem, was er will: Wer sich länger mit Enzler unterhält, muss sich eingestehen, ihn anfangs unterschätzt zu haben. Nun muss er auf dem Platz beweisen, dass seine Ziele mit seinen Leistungen korrelieren. «Es ist meine zweite Saison auf Profiniveau mit der realistischen Chance auf Einsätze. Damals bei Kriens gingen wir auf den Platz, um nicht zu verlieren. In Aarau ist der Sieg immer der Anspruch. Der Druck von aussen ist gross, doch genau das reizt mich.»
Ein Erfolgsindikator auf Enzlers weiterem Weg wird Google sein: Gibt man dort den Namen «Simon Enzler» ein, spuckt die Suchmaschine ausnahmslos Artikel über den gleichnamigen Komiker aus dem Appenzell aus. Am Tag, an dem der neue FCA-Goalie in der Google-Suche auch ohne den Zusatz «Fussball» auftaucht, wird er den Durchbruch auf der grossen Bühne geschafft haben.