
Star-Virologe im Interview: «Entweder natürliche Durchseuchung oder Impfung»
Professor Alexander Kekulé ist in Deutschland ein gefragter Mann. Der international bekannte Virologe überzeugt mit verständlichen Erklärungen und klaren Voten. Er scheut sich auch nicht davor, bisweilen auf Distanz zu Kollege Christian Drosten zu gehen. Kekulé gehörte im Frühjahr zu den Ersten, die eine Durchführung der Olympischen Sommerspiele in Tokio für unmöglich erklärten. Nun soll Olympia genau ein Jahr später an gleicher Stätte über die Bühne gehen. Wie schätzt Kekulé die Chancen ein, dass es dannzumal klappen wird?
Wen fragt man am besten für eine Prognose, ob die Olympischen Spiele im Juli 2021 durchgeführt werden können: den Sportfunktionär, den Virologen oder den Hellseher?
Alexander Kekulé (lacht): Am sichersten wird sich der Hellseher sein. Nach aussen hin am sichersten auftreten wird der Sportfunktionär. Und nach aussen hin am unsichersten auftreten, aber die besten Daten haben wird der Virologe.
Dann sind Sie als Virologe der wahre Hellseher?
Ich sehe das nicht so. Es gibt Dinge, die wissenschaftlich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eintreten werden. Da ich seit Jahrzehnten auch Politiker berate, bin ich geübt darin, mir zu überlegen, welche Art an Entscheidungszuverlässigkeit mein Gegenüber braucht. Ausserhalb der Naturwissenschaften ist es nicht möglich, absolut sichere Feststellungen zu treffen.
Sie haben früh gesagt, das Münchner Oktoberfest könne nicht stattfinden.
Diese Aussage war eine relativ kaltblütige Entscheidung mit Blick auf die derzeitigen epidemischen Bedingungen und die Projektion auf die Zukunft mit gewissen Grundannahmen zu Dingen, die da noch kommen mögen. Mit diesem Blick war auszuschliessen, dass eine solche Veranstaltung mit internationalen Gästen und dem emotionalen Fokus im Herbst stattfinden kann. Aus den gleichen Gründen habe ich im März im japanischen Fernsehen erklärt, dass die Olympischen Spiele im Sommer 2020 nicht durchführbar seien. Das alles hat nichts mit Hellseherei zu tun.
«Tokyo 2020» wird erst im Jahr 2021 stattfinden – wenn überhaupt. (Symbolbild)
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Die Spiele in Tokio sollen nun genau ein Jahr später stattfinden.
Man wird auf keinen Fall vor April nächsten Jahres einen Impfstoff zur Verfügung haben. Verfügbar in dem Sinne, dass er in grossem Stil verimpft wird. Ich halte es eher für wahrscheinlich, dass es Juni bis September 2021 wird. Es kann aber auch noch ein ganzes Jahr länger dauern, wenn etwas auf dem Weg zum Impfstoff schief geht. Die Pläne sind also nicht zuverlässig. Das bedeutet, dass wir vorher improvisieren müssen.
Was heisst improvisieren?
Es braucht ein Konzept, wie das von mir entwickelten «Smart Distancing» – also Schutz von Risikogruppen, Masken, Aufklärung des Infektionsgeschehens, reaktionsschnelle Nachverfolgung und Tests. Dann kann man im Prinzip auch die Olympischen Spiele durchführen.
Unter welchen Bedingungen?
Voraussetzung ist, dass sich die Zahl der Infektionen bis dahin deutlich verringert und man eine solch riesige Veranstaltung quasi wetterfest macht. Dafür gibt es aber noch sehr viel zu tun. Aber möglich ist es – auch mit einer begrenzten Anzahl Zuschauer.
Alexander S. Kekulé
Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Martin-Luther-Universität in Halle
Das Fachgebiet des 61-Jährigen sind Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Influenza-Pandemieplanung. Der Vater von fünf Kindern wohnt in München. Er berät verschiedene Politiker und ist aufgrund seiner direkten Art auch gern gesehener Gast in deutschen Talk-Shows. Kekulé studierte Biochemie, Humanmedizin und Philosophie.
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Wie sehen denn die Szenarien für Olympische Spiele im Juli 2021 aus?
Ein Worst-Case-Szenario ist, dass die Pandemie ganz fürchterlich weiterläuft und wir bis in einem Jahr in einem viralen Sturm stehen wie derzeit der Süden der USA. Wenn der Infektionsdruck so hoch ist – und das können wir nicht ausschliessen – kann man die Spiele nicht durchführen. Ein zweites Szenario ist, dass man durch die Kontrollmassnahmen die Sache so gut im Griff hat, dass in vielen Teilen der Welt das Virus zwar noch vorhanden ist, Neuinfektionen aber relativ schnell detektiert werden und die Menschen in der Lage sind, mit dem Risiko umzugehen.
Und das dritte Szenario?
Dieses gefällt einem Epidemiologen nicht sonderlich. Durch natürliche Durchseuchung, also durch Erkrankungen, wird ein Grossteil der Menschheit immunisiert. In Südamerika, in Indien, in Afrika und in Teilen Asiens sehe ich eigentlich keinen Weg, die erste Infektionswelle deutlich abzuschwächen. Dort wird es eine relativ hohe Durchseuchung geben. Meine Hoffnung wäre, dass das Virus in diesen Ländern nicht so viele Todesopfer fordern wird wie in Industrieländern, weil die Bevölkerung einfach jünger ist. Es könnte also auch sein, dass wir bis Juli 2021 in Teilen der Welt eine relativ gute Immunitätslage haben werden.
Wie sehen konkrete Schutzmassnahmen für einen Megaanlass aus?
Das Szenario, in dem das Virus einigermassen kontrolliert werden kann, ist am wahrscheinlichsten. Damit haben wir die Option, die Olympischen Spiele mit solchen Massnahmen stattfinden zu lassen. Man wird auf jeden Fall das Social Distancing weiterführen müssen. Es wird Maskenpflicht geben und die Empfehlung, Abstand zu halten.
Olympia mit Maskenpflicht – wie hier während eines Bundesligaspiels in Leipzig – für alle?
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Superspreader kann man aber auch so nicht ausschliessen.
Wenn eine Epidemie mit Volldampf läuft, dann bemerkt man Superspreader gar nicht, weil sich die Menschen bei so vielen Ereignissen anstecken. Aber in der Phase, in der wir uns in Europa derzeit befinden, mit einzelnen Ausbrüchen und ansonsten weitgehend ruhigem Geschehen, ist die Verhinderung von Superspreader-Ereignissen extrem wichtig. Gerade bei einem Grossanlass wie den Olympischen Spielen muss man Risikosituationen für Superspreading im Voraus identifizieren.
Wo passiert das bei Olympia?
In geschlossenen Räumen, wo die Luft nicht zirkuliert und sich viele Menschen befinden. Wir wissen aber auch, dass ein Mensch mit Mund-Nasen-Schutz kaum zum Superspreader werden kann. Er könnte möglicherweise, wenn er unter der Maske hustet, die Person neben sich anstecken, aber nicht hundert Leute gleichzeitig.
Auch Tests halten Sie für wichtig.
Ja. Testen, testen, testen! Man benötigt einen Schnelltest, der jederzeit und überall gemacht werden kann und in 20 Minuten das Resultat liefert. Wenn Sie 200 Leute in einem geschlossenen Raum haben und alle wurden am Morgen negativ getestet, ist das Infektionsrisiko extrem gering. Wenn zusätzlich Masken getragen und die Abstandsregeln eingehalten werden, ist das Risiko für einen Ausbruch sehr gering.
Star-Virologe Alexander Kekulé fordert: Testen, testen, testen.
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Dann sagen Sie also, Olympische Spiele 2021 sind möglich?
Diese Vereinfachung ist gefährlich. Dann steht am nächsten Tag in der Zeitung, der Kekulé sagt, Olympia kann stattfinden. Die lange Liste von Bedingungen dazu interessiert niemanden mehr (lacht). Ganz wichtig ist: Das IOC hat ein Jahr Zeit, sich vorzubereiten.
Was müsste sich konkret ändern, damit Olympische Spiele wieder so möglich sind, wie wir sie kennen?
Entweder eine hohe natürliche Durchseuchung der Bevölkerung oder eine Impfung. Es ist gut möglich, dass Länder wie Brasilien oder afrikanische Staaten am schnellsten wieder auf die Beine kommen, weil sie schnell eine hohe Durchseuchung um die 60 Prozent erreichen. Wenn wir im 17. und nicht im 21. Jahrhundert stehen würden, wäre das ja ohnehin die einzige Option gewesen.
Es gäbe enorm viele Tote.
Die Pandemie würde ungebremst durchlaufen, es gäbe fürchterlich viele Todesfälle, hauptsächlich unter der älteren Bevölkerung. Nach einem Jahr wäre der Spuk vorbei und das Leben würde weitergehen wie vorher. Die reichen Länder der Erde haben heute die Möglichkeit, einen Grossteil der Todesfälle zu verhindern. Vielen armen Ländern bleibt nur ein gewisser Fatalismus. Seuchen sind immer ungerecht.
Sollte man für alle Athleten eine Impfpflicht anordnen?
Ich bin grundsätzlich gegen Impfpflichten. Man kann niemanden verpflichten, sich gesund zu halten. Wenn man für die Olympischen Spiele eine Impfempfehlung herausgeben würde, bin ich mir ganz sicher, dass gesundheitsbewusste Menschen wie Spitzensportler zu weit über 90 Prozent mitmachen würden. Und solange sich 60 bis 70 Prozent impfen lassen, schützen sie durch die Herdenimmunität auch die Unbelehrbaren.
Tokio sollte Olympiastadt sein – ist nun aber Japans grösster Infektionsherd
In diesem Stadion sollte ab morgen Olympia stattfinden.
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Eigentlich sollte sich hier jetzt die Welt tummeln. Aus jedem Land der Erde wären Sportler und Zuschauerinnen zu Gast – denn morgen Freitag würden die Olympischen Spiele in Tokio beginnen. Doch die Pandemie hat eine Verschiebung erzwungen, bis auf Weiteres um ein Jahr. Und in Japans Hauptstadt denkt man kaum noch an die Grossveranstaltung, an die sich die meisten Einwohner so gefreut hatten.
Sorgen macht man sich dieser Tage über die nächste Welle von Covid-19. Die täglichen Neuinfektionen sind auf über 600 Fälle gestiegen, ein Höchstwert seit drei Monaten. Damals wurde der nationale Ausnahmezustand über das Land verhängt. Dabei kommen knapp die Hälfte Infektionsfälle aus der designierten Olympiastadt Tokio.
So wenig Internationalität wie jetzt verströmt Tokio sonst kaum je. Die Regierung hat dieser Tage ihre Hauptstadt von einer Liste genommen, mit der japanische Orte inmitten der Pandemie durch inlandstouristische Aktionen unterstützt werden sollen. Das Reisen aus und nach Tokio, den grössten Infektionsherd des Landes, scheint derzeit zu gefährlich. Ausländer aus den meisten Ländern der Welt dürfen schon seit Monaten nicht mehr nach Japan reisen.
Mit Olympia wollte sich das bisher eher verschlossene Japan als weltoffenes Land präsentieren. Der Slogan «Unity in Diversity» (Einheit in Vielfalt) sollte symbolisieren, dass im ostasiatischen Land alle Farben der Welt willkommen sind. Doch seit die olympischen Slogans der Parolen der Krisenbekämpfung gewichen sind, ist von dieser Idee eines weltgewandten Japans nicht viel übrig. Die Pandemie hat im Land an mehreren Stellen zu einer Ungleichbehandlung geführt, die durch die Olympischen Spiele eigentlich überwunden werden sollte.
Ausländer aus den meisten Ländern der Welt dürfen schon seit Monaten nicht mehr nach Japan reisen.
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So bleibt in der aktuellen Krise die Einreise in der Regel auch Ausländern verwehrt, die zwar ein japanisches Arbeitsvisum besitzen, das Land aber einmal verlassen haben. Japaner, die sich im Ausland aufgehalten haben, können dagegen wieder einreisen. Und für Studenten aufgelegte Liquiditätshilfen gelten derzeit für alle Inländer, aber für ausländische Studenten nur dann, wenn diese besonders gute Noten haben. International könnte all dies zu einem Imageschaden führen.
Trotzdem: die Olympiaorganisatoren beteuern, dass in einem Jahr, wenn dann am 23. Juli 2021 die offiziell weiterhin als «Tokyo 2020» bezeichneten Spiele starten sollen, alles wieder gut aussehen werde. So betonte Yoshiro Mori, ehemaliger japanischer Premierminister und heute Präsident des Organisationskomitees, dass der Wettkampfplan mitsamt den Wettkampfstätten grundsätzlich unverändert bleiben werde – eben nur um ein Jahr verschoben.
Zumindest dies ist nicht selbstverständlich, da durch die Verschiebung Zusatzkosten in Milliardenhöhe entstehen. So hatten Betreiber von Messegeländen und Stadien entweder bereits alternative Pläne für das kommende Jahr oder kämpfen nun mit entgangenen Einnahmen, sodass sie angesichts der Verschiebung zusätzliche Zahlungen erwarten.
Vor einem grossen Problem stehen die Veranstalter grundsätzlich bei der Frage, wer all die Zusatzkosten tragen soll. Es ist auch diese Frage, die in der öffentlichen Diskussion an die Stelle der einstigen Vorfreude getreten ist. Zwar sehen olympische Ausrichterverträge vor, dass die Gastgeberstadt alle jenseits des Budgetplans anfallenden Kosten verantwortet. Doch eine pandemiebedingte Verschiebung ist eine völlig neue Situation, die für viel Unklarheit sorgt. So ist auch noch strittig, wie die Käufer der Wohnungen, die nach dem Sportevent im olympischen Dorf entstehen sollen, entschädigt werden. Diese können nun erst ein Jahr später bezogen werden.
Angesichts der vielen unangenehmen Fragen bemühen sich die Organisatoren um die guten Botschaften. So wurde schon vor einer guten Woche gerne bestätigt, was eigentlich selbstverständlich ist: Wer bereits Tickets für 2020 gekauft hat und diese im Sommer 2021 nicht wahrnehmen kann, soll sein Geld erstattet bekommen. Eine weitere vermeintlich gute Nachricht wiederholte Chef-Organisator Yoshiro Mori vor kurzem: «Wir werden diese Spiele völlig anders machen als in der Vergangenheit, sie werden sicher und vereinfacht sein.» Es sollen Kosten gespart und Zuschauerzahlen reduziert werden. Ganz ohne Publikum soll und werde es aber nicht gehen.