
Streit um 350 Millionen: Die SP bekämpft «dicken, fetten Steuerbonus für Eltern, die ihn gar nicht brauchen»

Steuerpolitik ist trocken? Von wegen. Der Abstimmungskampf über die höheren Kinderabzüge bei der direkten Bundessteuer wird emotional werden. Versprochen. Denn es geht nicht nur um Zahlen, sondern um Familienmodelle und Rollenbilder. Und die Frage: Wer gehört zum Mittelstand? Welche Familien sind förderungswürdig: Die Armen? Oder die Reichen? Oder alle?
Am letzten Tag der Herbstsession hatte das Parlament beschlossen, den allgemeinen Abzug bei der direkten Bundessteuer von 6500 Franken pro Kind auf 10’000 Franken zu erhöhen. Familien werden damit um 350 Millionen Franken entlastet. Gegen die Erhöhung war der Bundesrat. Er wollte nur den Abzug für Fremdbetreuungskosten von 10’100 auf 25’500 Franken pro Kind erhöhen, um die Erwerbstätigkeit von Müttern zu steigern. Kostenpunkt: 10 Millionen Franken. Auch dieser Erhöhung stimmte das Parlament zu. Die CVP jedoch wollte, dass alle Familien, unabhängig vom Erziehungsmodell, entlastet werden. Sie rühmte sich nach dem Entscheid: «Dank der CVP wird ein weiterer Schritt in Richtung einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie gemacht.»
Das sehen freilich nicht alle so. Der Beschluss erzürnte die Ratslinke. Die SP sammelt ab heute Unterschriften für ein Referendum. Dass die Partei die 50’000 nötigen Unterschriften zusammenbringen wird, ist eine reine Formsache. Die Sammlung lässt sich zudem trefflich mit dem Wahlkampf verbinden. Ein gutes Vehikel vor allem für jene Ständeratskandidaten, die in einen zweiten Wahlgang müssen.
Die Abstimmung wird wohl im September 2020 stattfinden. Zwar wird Anita Fetz dann nicht mehr Ständerätin sein. Auf den Abstimmungskampf freut sich die Baslerin gleichwohl. Sie gab am Montag an einer Medienkonferenz einen Vorgeschmack, wie das dann zu und her gehen wird. Ihre Aussagen waren wie stets pointiert. Sie empörte sich derart, dass SP-Präsident Christian Levrat ein Lachen nicht unterdrücken konnte. Fetz redete vom «dicken, fetten Steuerbonus für Eltern, die es gar nicht brauchen». Die 350 Millionen Franken nannte sie eine «Herdprämie», weil die Erwerbsanreize für Frauen durch die Erhöhung sogar gesenkt werden. CVP und SVP würden lieber ausländische Fachkräfte ins Land holen, als inländische Mütter zu fördern. Zudem seien sämtliche Regeln der Gesetzgebung ausgehebelt worden. Tatsächlich kam die Erhöhung via Einzelantrag ins Gesetz – eine Vernehmlassung gab es keine. Die SP kritisiert, dass es den Bürgerlichen nicht um Familienpolitik gehe, sondern um Steuersenkungen.
Tatsächlich zahlen heute, dank früheren Entlastungen, 44 Prozent der Familien keine direkten Bundessteuern. Von den übrigen 56 Prozent würden wegen der Progression jene mit hohen Einkommen stärker profitieren. 245 Millionen Franken würden zur Entlastung von Familien mit einem steuerbaren Einkommen von mehr als 100’000 Franken eingesetzt. Die maximale Steuerersparnis von 910 Franken setzt – je nach Einkommensverteilung der Paare – bei 200’000 respektive 300’000 Franken ein.
Schützenhilfe erhält die SP ausgerechnet aus der Wirtschaft. Simon Wey, Chefökonom des Arbeitgeberverbandes, äussert sich deutlich: «Die Erhöhung des allgemeinen Kinderabzugs setzt keine zusätzlichen Arbeitsanreize für Mütter – im Gegenteil. Die 350 Millionen Franken müssten zielgerichteter investiert werden.» Besser wäre es, das Geld in den Ausbau von Drittbetreuungsangeboten zu investieren und die für Familien anfallenden Fremdbetreuungskosten zu senken. Skeptisch äussert sich auch Marco Salvi, Ökonom beim Thinktank Avenir Suisse. «Wenn man die Steuerbelastung reduzieren will, sollte man dies für alle tun und nicht nur für die Familien. Will man aber die Arbeitsanreize für Mütter erhöhen, sind höhere Kinderabzüge das falsche Mittel», sagt Salvi. Er befürchtet, dass die Beschäftigung von Müttern gar sinken könnte. Um die Gleichstellung zu fördern, würde er die 350 Millionen Franken in die Einführung der Individualbesteuerung investieren oder allenfalls in den Ausbau des Fremdbetreuungsangebotes.
Freuen auf den Abstimmungskampf tut sich jedoch nicht nur die SP. «Endlich können wir einmal darüber sprechen, was Familien leisten, und zwar alle Familien», sagte Nationalrat Philipp Kuster (CVP/ZH), Erfinder des 350-Millionen-Bonus, der «NZZ am Sonntag». Für die SP zählten nur arme Familien, alle anderen seien ihr egal. Auch FDP-Fraktionschef Beat Walti gibt sich kampfeslustig. «Auch Familien mit Einkommen von 100 000 Franken oder mehr sind Familien. Sie sind diejenigen, denen wir mit einer Selbstverständlichkeit die vollen Kosten des Lebens aufbürden.»