Taxidienst für ein pudelnasses altes Männlein

Der alte Mann fuchtelt wie wild mit seinen Gehstöcken. Auf wackligen Beinen steht er an der Bushaltestelle. Regentropfen prasseln auf die Frontscheibe meines Autos. Die Scheibenwischer wedeln etwa im selben Tempo hin und her wie der Greis mit seinen Krücken. Ich verlangsame meine Fahrt, halte an, kurble das Fenster herunter. «Brauchen Sie Hilfe?», frage ich. Der Herr schreit: «Nein, nur ein Taxi. Der Bus ist mir vor der Nase abgefahren.» Ich zögere kurz. Da hallt die Stimme meiner Mutter in meinem Hinterkopf, «hüte dich vor Autostoppern». Aber was sollte mir dieses gepflegt gekleidete, pudelnasse und glatzköpfige Männlein schon antun.

Furchtlos stosse ich die Beifahrertür auf. Der Opa zwängt sich und seine Gehstöcke auf den Sitz. Ich versichere ihm, ihn bis zum Bahnhof mitzunehmen. Die eigentlich nur fünfminütige Fahrt dauert im Mittags-Kolonnenverkehr länger. Hermann – ja, er bietet mir sofort das Du an – nutzt die Zeit, um mir mehr zu erzählen, als ich eigentlich wissen wollte. Er spricht von seinem Augenarzttermin, nach dem er etwas beduselt sei und deshalb den Bus verpasst habe, klagt über die Einsamkeit in seinem Wohnblock und in seinem Leben, schwärmt von einer Bekannten, die ihm hilft, Bettwäsche aufzuhängen – den Rest des Haushalts erledige er selber. Die Regentropfen auf seiner Nase mischen sich mit Tränchen, als er vom frühen Tod seiner Frau erzählt und von der späteren Hochzeit mit einer jungen Osteuropäerin und der baldigen der Scheidung. Dass dies natürlich «der grösste Fehler seines Lebens war», ahnte ich, noch ehe er diese Worte aussprach.

Dann stellen wir fest, dass wir im selben Dorf wohnen, sogar im selben Quartier. Wir fahren also am Bahnhof vorbei und «heim». Mit einem seiner Gehstöcke deutet mir Hermann ganz genau, wo ich anhalten soll, damit er nur wenige Schritte marschieren sprich bummeln muss bis zum Treppenhaus. Er verdankt das «Netteste, was jemand seit Monaten, vielleicht seit Jahren» für ihn getan habe. Wir reichen uns die Hand. Seither ist ein halbes Jahr vergangen. Wir sind uns nie mehr begegnet. Mein Taxidienst taucht aber immer mal wieder in meinen Gedanken auf. Weil ich irgendwie hoffe, im Alter im Kopf so fit zu sein wie Hermann, körperlich aber mobiler und vor allem weniger einsam. Vielleicht bringe ich Hermann bald mal Weihnachtsguetsli vorbei. Oder einen Regenhut.