
Trauen Sie sich wieder, «Grüezi» zu sagen
Als kleiner Junge spazierte ich regelmässig mit meiner Mutter durch Reiden. Wo auch immer uns Menschen begegneten, hatte ich sie freundlich zu grüssen – so der Erziehungsgrundsatz meiner Eltern. Geschah dies nicht, wies mich meine Mutter mit aller Entschiedenheit zurecht. «Wie du in den Wald rufst, so kommt es zurück», ermahnte sie mich und wollte damit sagen, dass meine Freundlichkeit erwidert und mit derjenigen der anderen goutiert werde – was auch wirklich so war.
Heute scheint dies nicht mehr der Fall zu sein: Mein herzliches «guete Morge» oder ein einfaches «Grüezi» stösst sowohl auf offener Strasse als auch im Bürogebäude oftmals auf taube Ohren. Die nett gemeinten Worte werden weder wahrgenommen noch erwidert. Die Freundlichkeit scheint offensichtlich zur Ausnahme geworden zu sein.
Die Gründe dafür mögen vielseitig und nicht abschliessend erklärbar sein. Der naheliegendste und offenkundigste, jedoch nur für die offene Strasse geltende Grund betrifft die Kopfhöhrer. Deren permanentes Dröhnen verunmöglicht jegliches Wahrnehmen einer Freundlichkeit. Und was nicht wahrgenommen wird, kann nicht erwidert werden.
Einen weiteren und weniger trivialen Grund sehe ich in den heutigen digitalen Kommunikationsmitteln. So ist es einfacher, eine Anfrage per Mail zu platzieren, als die entsprechende Person anzurufen; es ist einfacher, stundenlang mit jemandem Whatsapp-Nachrichten auszutauschen, als diese Person in einem Café zu treffen und mit ihr ein Gespräch zu führen.
Zu oft ertappe ich mich selbst, wie ich aus Angst vor der sofortigen Reaktion des Konversationspartners in die Tasten haue und eine Mail schreibe, anstatt ein kurzes und womöglich viel aufschlussreicheres Telefongespräch zu führen.
Mit den digitalen Kommunikationsmitteln wird zwar tendenziell mehr kommuniziert, jedoch auf einem wesentlich unpersönlicheren Weg. Damit erhöht sich die Hemmschwelle eines einfachen «e Guete» oder «es schöns Wochenänd» – die Menschen sind es sich immer wie weniger gewohnt, sprachlich miteinander zu kommunizieren.
Deshalb fordere ich wieder eine gepflogene Gesprächskultur. In der Hoffnung, sie führe auch wieder zu mehr Freundlichkeit. Denn trauen wir uns, mit einer fremden Person ein Gespräch zu führen, sollte ein einfaches «Grüezi» auf offener Strasse kein Hindernis mehr darstellen.