
Vier Monate Coronakrise in der Schweiz: Haben Sie zu spät reagiert, Herr Berset?
22. Januar, Davos: Corona kommt in der Politik an
Als Gesundheitsminister Alain Berset am 22. Januar das Wort «Coronavirus» am WEF erstmals öffentlich erwähnt, hat Christian Althaus bereits all e Aktien verkauft. Der aufstrebende Epidemiologe arbeitet an einer Studie. Sie zeigt: Das neue Virus aus China hat das Potenzial, sich global zu verbreiten.
Am 30. Januar ruft die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den internationalen Notfall aus – und am selben Tag veröffentlicht Althaus seine Studie im Wissenschaftsjournal «Eurosurveillance». Zwei Tage zuvor hat er das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kritisiert, weil es an einer Medienkonferenz nicht darüber im Bild war, dass es bereits zu einer ersten Ansteckung ausserhalb Chinas gekommen ist.
Die Kritik wird registriert. «PMA wird von Virologe Althaus per Twitter angegriffen», heisst es im Protokoll der Task Force 2019-nCoV, die das Bundesamt am 23. Januar ins Leben ruft. PMA steht für Patrick Mathys, er ist Leiter der Sektion Krisenbewältigung. Damit beginnt ein Fernduell zwischen den jungen wilden Epidemiologen wie Althaus und Marcel Salathé und dem BAG. Es dauert (fast) bis heute an.
Berset selbst trifft in Davos WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus. Die Schweiz verfolge die Situation in China sehr genau, sagt er danach: «Wir sind sehr gut vorbereitet.» Er habe Tedros Hilfe angeboten bei der Bekämpfung des Coronavirus: «Wir helfen, wo wir helfen können.»
Was Berset zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: Die Schweiz ist keineswegs so gut auf eine Pandemie vorbereitet, wie er glaubt. Bevor sie anderen helfen kann, wird sie sich zuerst selber helfen müssen.
25. Februar, Rom: Der Krisenmodus beginnt
Der Bundesratsjet hebt an jenem Dienstagmittag in Bern-Belp Richtung Rom ab. An Bord: Alain Berset. Italiens Gesundheitsminister Roberto Speranza hat die Kollegen der Nachbarländer – inklusive Deutschland – eingeladen. Er will ihnen zeigen: Sein Land ist für die Krise gerüstet.
Auf engstem Raum: Berset trifft in Rom Italiens Gesundheitsminister.
© Keystone
Keystone-Bilder dokumentieren den ungeordneten Charakter des Treffens. Speranza, Berset und der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn stehen eng beieinander. Abstand war damals noch kein Thema. Masken sind keine zu sehen. Später umringen die Journalisten die Minister. Was für ein Glück, dass sich hier keiner infiziert hat.
Alain Berset, seit acht Jahren Gesundheitsminister und damit Doyen der europäischen Gesundheitsminister, realisiert schnell, dass etwas nicht stimmen kann. Zwar zählt Italien am 25. Februar offiziell erst 280 angesteckte Personen, aber zehn Tote. Dieses Verhältnis macht Berset misstrauisch: Die Dunkelziffer an Infizierten muss sehr hoch sein. Für ihn gibt es nur ein Fazit: Sofort in den Krisenmodus schalten.
An diesem Tag meldet auch die Schweiz den ersten Infizierten, einen 70-jährigen Tessiner, der sich in Mailand angesteckt hat. Berset entscheidet sich, die nächsten Wochen in Bern zu leben. Für ihn ist klar: In einer Krisensituation wie dieser muss man Work Life Balance definitiv vergessen.
Am Freitag, 28. Februar, fällt der erste grosse Entscheid. Der Bundesrat verbietet als erste Regierung in Europa Grossveranstaltungen mit über 1000 Personen. Die Berner Fasnacht wird abgebrochen, die Basler Fasnacht findet gar nicht statt. Das Verbot macht internationale Schlagzeilen.
Die «Schweiz am Wochenende» traf Bundesrat Berset, um mit ihm auf die Corona-Wochen zurückzublicken.
Wann waren Sie aus Rom zurück?
Alain Berset: Gegen 23 Uhr. Am nächsten Tag fand eine Bundesratssitzung statt. Es war zu spät, um noch schriftliche Unterlagen einzugeben. Am nächsten Tag informierte ich meine Kollegen mündlich. Uns wurde klar: Wir haben ein grosses Problem. Es standen viele, grosse Veranstaltungen an – auch mit internationaler Beteiligung
Sie verboten Veranstaltungen mit über 1000 Personen. Hatten Sie Angst vor heftigen Reaktionen?
Alain Berset: Es gibt Momente, da darf man keine Angst haben. Aber ja, wir waren damit die ersten in Europa. Und da fragt man sich schon, wie fallen die Reaktionen aus. Heute bin ich überzeugt: Hätten wir damals nicht entschlossen gehandelt, hätten wir es teuer bezahlt.
13. März, Bern: Eine Sitzung jagt die andere
Die Stimmung in der Öffentlichkeit ist aufgeheizt. Der Waadtländer Volkswirtschaftsdirektor Philippe Leuba sagt am 5. März auf RTS, Corona sei einfach eine Grippe wie jede andere auch. Mit der «allgemeinen Psychose» löse man in der Schweiz eine Wirtschaftskrise aus. Am selben Tag vermeldet die Schweiz ihre erste Corona-Tote – eine 74-jährige Waadtländerin.
© Lea Siegwart
Im Tessin werden die Forderungen immer lauter, die Grenzen zu Italien zu schliessen. Der Südkanton, der an den Seuchenherd Lombardei grenzt, hat den Notstand ausgerufen, die Schulen geschlossen und im Eishockey Geisterspiele verfügt. Er drängt in Bern auf drastische Massnahmen. Österreich führt Grenzkontrollen zur Schweiz ein.
Am 13. März zählt die Schweiz 7 Tote und total 1009 Infizierte. An diesem Tag Ende der zweiten Woche der Frühlingssession beginnt ein Sitzungsmarathon des Bundesrats. Bis zum 20. März finden fünf Sitzungen an acht Tagen statt. Das hat es zuletzt 1970 gegeben: Als am 7. September der Swissair-Flug 100 nach Jordanien entführt wurde, tagte der Bundesrat täglich.
Die Coronakrise ist ungleich komplexer. Sie betrifft die Bevölkerung in all ihren Lebensbereichen. Der Druck auf Alain Berset ist hoch. Zur Coronakrise muss er auch noch eine anspruchsvolle Session bewältigen. Er leistet Tagespensen mit 15 bis 18 Stunden und das sieben Tage die Woche.
Am 13. März entscheidet der Bundesrat, dass nur noch Versammlungen bis 100 Personen erlaubt sind. In Restaurants dürfen höchstens 50 Gäste sitzen. Und er schliesst die Schulen. Es kommt zu Hamsterkäufen.
Auf Whatsapp kursieren Meldungen wie diese: «Hoi Moni, hör zu, ich habe gerade eine Meldung erhalten: Morgen geht eine interne Meldung des Bundeshauses an die Medien, dass in der Schweiz der Notstand ausgerufen wird. Einfach zur Sicherheit: Kaufe heute ein, was du brauchst. Morgen wirst du nichts mehr bekommen.» Es folgt ein Aufruf: «Informiere so viele Leute wie möglich.»
Berset ist an jenen Tagen mit Hut, Jeans und Lederjacke in Bern unterwegs. Privat. Und damit sozusagen inkognito. Er will mit eigenen Augen sehen, wie die Bevölkerung reagiert. Was er sieht, gefällt ihm nicht: Restaurants haben geöffnet, als hätte es nie eine Verordnung des Bundesrats gegeben.
Alain Berset mit Hut, Lederjacke und Jeans unterwegs in Bern.
© TeleZüri
Es ist der heikelste Moment überhaupt in dieser Krise. Dem Bundesrat droht das Geschehen zu entgleiten. In Bern und in der Innerschweiz bleiben Skigebiete offen, Berset wird per SMS mitgeteilt, dass überall Feten stattfinden. Und die Regierung befürchtet, dass Frankreich die Grenzen vollständig schliesst, selbst für Grenzgänger.
Am Sonntag gehen vier Westschweizer Kantone in die Offensive. Sie verkünden den Notstand. Auch Berset reagiert. Am späteren Sonntagnachmittag reisen alle Bundesräte nach Bern. Das wird nötig, weil eine geplante Telefonkonferenz nicht klappt. Die SRF-Journalistin filmt vom Balkon des Medienzentrums live, wie die Limousinen der Bundesräte vor dem Bernerhof vorfahren. Dort findet die Sitzung statt, da auch Berater dabei sind.
Am Tag danach, dem 16. März, findet der zweite grosse Auftritt statt. SRF, alle Privatsender und Newsportale sind live auf Sendung: Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga erklärt die ausserordentliche Lage. Nun gilt Notrecht. Der Bundesrat kann durchregieren. Ohne Parlament. Auch die Kantone sind entmachtet.
Das nutzt der Bundesrat – er verfügt: Restaurants, Bars, Läden, Sport- und Freizeiteinrichtungen sind geschlossen. Auch die Grenzen bleiben zu, Grenzgänger ausgenommen. Und der Bundesrat bewilligt den Einsatz von bis zu 8000 Armeeangehörigen. Es ist die grösste Mobilisierung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Schweiz erlebt einen Tag für die Geschichtsbücher.
Nicht nur sie. Emmanuel Macron wählt drastische Worte. «Wir sind im Krieg!», ruft Frankreichs Staatspräsident und verfügt eine Ausgangssperre. Aus der Westschweiz wächst der Druck, es ihm gleichzutun. Die Waadtländer Regierungspräsidentin Nuria Gorrite sagt: «Wir müssen entscheiden, ob wir die Menschen in den Tod oder in die Arbeitslosigkeit schicken.»
Der Streit zwischen den jungen Epidemiologen und dem BAG geht derweil in die nächste Runde. Am 18. Februar konnte Althaus seine Modellierungen im BAG vorstellen. Es lädt die Wissenschaftler am 18. März auch zu einer Sitzung ein. Diese soll, so empfinden es die Epidemiologen, vor allem die Wogen glätten. Das kommt nicht gut an.
«In diesen Wochen ist mein Vertrauen in die Politik erschüttert», schreibt Marcel Salathé drei Tage später auf Twitter. «Nach der Aufarbeitung – was alles falsch lief, und wie total veraltet die Prozesse sind – wird kein politischer Stein auf dem anderen bleiben.» Nachdem Bundesrat und BAG bislang kaum hinterfragt wurden, kommt erstmals Kritik auf. Sie verschärft sich in den nächsten Wochen.
Am 20. März geht die Schweiz doch einen Schritt weiter. Sie verbietet Menschenansammlungen über fünf Personen. Alain Berset nutzt seinen Auftritt zu einer Rede an die Nation. Wichtig sei, sagt er, dass «die Massnahmen von der Bevölkerung umgesetzt werden – und zwar über mehrere Wochen hinweg». Es ist einer seiner Krisensätze, die er wie ein Mantra wiederholt.
Am 23. März erreicht die Pandemie in der Schweiz mit 1463 neu Infizierten an einem einzigen Tag den Höhepunkt. Das weiss Berset zu diesem Zeitpunkt aber nicht. Das BAG hatte ihm Signale gegeben, dass der Peak an Ostern erreicht werde, um den 12. April.
Die Fernsehzahlen explodieren. 1,35 Millionen Menschen sehen am 16. März, dem Tag, an dem das Notrecht verkündet wird, die «Tagesschau». Und 459’109 Personen verfolgen auf Youtube den Livestream der Medienkonferenz des Bundesrats.
Berset selbst avanciert zur Leaderfigur. Die NZZ schreibt, ihn umwehe ein «Hauch von General Guisan». Eine Freiburger Kommunikationsagentur druckt T-Shirts mit einer Aussage, die Berset an der Medienkonferenz vom 16. April macht. Er sagt, wie sich der Bundesrat den Ausstieg aus dem Krisenmodus vorstellt: «So schnell wie möglich und so langsam wie nötig.» Das T-Shirt verkauft sich über 20’000 Mal.
«Il faut agir aussi vite que possible»: T-Shirts mit Berset-Mantra.
© Keystone
Die Medien werfen zunehmend Fragen auf: Hat die Schweiz schnell genug reagiert als Land, das direkt an die Lombardei grenzt, Europas Seuchenzentrum? Warum war Österreich der Schweiz stets fast eine Woche voraus?
Hätte die Schweiz die Grenzen zu Italien früher schliessen müssen?
Alain Berset: Wir haben uns mehrfach gewundert und das auch festgehalten, dass die WHO so lange keinerlei Restriktionen für den Personenverkehr empfahl. Dieses Signal empfingen so alle Staaten. Überall im Schengen-Raum kam es dann in wenigen Tage recht koordiniert zu Grenzkontrollen.
War das ein politischer Entscheid wegen der Begrenzungsinitiative?
Berset: Nein, der Bundesrat hat epidemiologisch entschieden.
Hätten Sie generell früher reagieren müssen? Epidemiologe Christian Althaus befürchtete Ende Februar bis zu 30’000 Tote.
Berset: Schwer zu sagen. Wir sprechen von Tagen. Und die Situation war nicht in allen Landesteilen gleich. Der Bundesrat versuchte, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Einschränkungen können nur funktionieren, wenn die Leute überzeugt davon sind, dass sie notwendig, sinnvoll und verhältnismässig sind. Hätte die Bevölkerung solch einschneidende Massnahmen schon viel früher mitgetragen?
Hätte sie?
Berset: Ich bezweifle es. Hätten wir jedoch noch länger zugewartet, hätte das verheerende Folgen gehabt. Ich glaube, unser Timing war nicht schlecht. Aber klar: Es gab und gibt eine Flut von Meinungen. Die Politik muss diese Appelle und Ansichten prüfen und sich dann für einen Weg entscheiden. Immer im Wissen, dass dieser Weg vielleicht rasch wieder angepasst werden muss. Die Politik muss das gesellschaftliche Ganze im Auge behalten, wir bewegen uns also unweigerlich in einem Spannungsfeld zwischen Experten und Entscheidungsträgern.
Das war Ihnen sofort bewusst?
Berset: Ganz zu Beginn war nicht klar, wie gefährlich dieses Virus ist. Als dann China seine strikte Ausgangssperre durchzog, wussten wir, das scheint gravierend zu sein: Da kann etwas auf uns zukommen, das nicht so schnell wieder verschwindet.
Die Westschweiz forderte vehement eine Ausgangssperre. War sie ein ernsthaftes Thema?
Berset: Ich hatte Regierungsräte am Telefon, die unbedingt eine Ausgangssperre wollten. «Die Leute fordern das», sagten mir Regierungsräte. Es gab Petitionen. Wir alle erinnern uns, wie intensiv die Ungewissheit sich in diesen Tagen auf die Stimmung ausgewirkt hat. Für mich wäre eine Ausgangssperre ein Fehlentscheid gewesen für unser Land. Der Bundesrat setzte auf Eigenverantwortung, auf Überzeugung.
Weshalb?
Berset: Mir war intuitiv klar, dass die Krise lange dauern könnte. Ich sprach nicht ohne Grund von einem Marathon. Dafür braucht es Kraft und Reserven. Deshalb war es wichtig, dass die Bevölkerung die Regeln als notwendig akzeptiert und motiviert umsetzt. Kein Gemeinsinn ohne Eigenverantwortung. Es galt gemeinsam die Verletzlicheren zu schützen.
War es richtig, die Schulen zu schliessen?
Berset: Stellen Sie sich vor, wir hätten gesagt, es sollen alle zuhausebleiben, nur die Kinder gehen zur Schule. Das wäre sehr schwierig gewesen. Im Tessin begannen die Eltern, ihre Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken. Kantone befassten sich mit Schulschliessungen. Es gab gewisse epidemiologische Hinweise und wir sprachen uns mit den Nachbarländern ab.
Hätten Sie die Epidemiologen nicht deutlich früher einbinden müssen?
Berset: Wir haben in der Verwaltung eigene Experten, auf die wir uns stark stützen. Und das Bundesamt für Gesundheit ist immer im Austausch mit externen Experten und Wissenschaftlern, auch zu Nicht-Krisenzeiten. Das ist wichtig. Das Interesse der Wissenschaft, die Behörden bei der Bewältigung dieser Krise zu unterstützen, war gross. Die institutionalisierte Einbindung der Wissenschaft im Rahmen der Taskforce kam etwas später – mit insgesamt zehn Expertengruppen und einem siebenköpfigen Beirat.
3. April, Ittigen (BE): Armeeapotheke wird Masken-Zentrum
Desinfektionsmittel und Masken sind schon seit Ende Februar ausverkauft. In der Krise zeigt sich: Die Schweiz ist in Sachen Schutzmaterial schlecht gerüstet. Weder für Desinfektionsmittel noch für Hygienemasken gibt es gemäss BAG-Pandemieplan 2018 eine Lagerhaltungspflicht. Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) empfiehlt Privatpersonen aber einen persönlichen Notvorrat von 50 Hygienemasken. Nur weiss das niemand.
Der Maskenengpass zu Beginn der Pandemie dürfte ein Grund sein, weshalb Alain Berset und Daniel Koch, Leiter der Abteilung «Übertragbare Krankheiten» des BAG, den Nutzen von Hygienemasken bei jeder Gelegenheit relativieren.
«Bei der Frage, in welchen Situationen der Allgemeinbevölkerung das Tragen von Hygienemasken empfohlen werden soll, müssen grundsätzlich folgende vier Faktoren berücksichtigt werden», heisst es im Pandemieplan. Erster Punkt: Verfügbarkeit. Danach folgen: epidemiologischer Nutzen, Wirksamkeit der Masken, Schweregrad der Pandemie.
Das BAG hält am 30. März in der Covid-19-Konferenz des Bundesamts für Bevölkerungsschutz fest: «Ein allfälliger Entscheid zum Tragen von Masken aufgrund des Druckes von aussen wird auf der politischen Stufe gefällt und nicht aus epidemiologischer Sicht.» So steht es wörtlich im Protokoll. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass die Behörden den Nutzen von Masken relativieren, weil Masken in der Schweiz ein rares Gut waren.
Am 20. März reagiert der Bundesrat mit einer scharfen Korrektur auf die Engpässe. Er konzentriert die Beschaffung per sofort auf den Bund. Für wichtige medizinische Güter sind neu Armeeapotheke (Medizinprodukte und Schutzausrüstungen) und BAG (für Arzneimittel) zuständig.
Schon am 12. Februar hatte der Bundesrat in einer Infonotiz zur Kenntnis genommen, dass Hygienemasken in der Schweiz nur limitiert vorhanden sind und dass substanzielle Anpassungen nötig sind. Bis sie vollzogen werden, vergehen fast zwei Monate. Zwischen dem 20. März und Mitte Juni hat die Armeeapotheke 302 Millionen Hygienemasken gekauft. Heute lagert sie noch 200 Millionen Masken in der Schweiz.
Die Beschaffung von Schutzmaterial funktionierte nicht. Weshalb?
Berset: Die Beschaffung von Medikamenten, Masken und Beatmungsgeräten ist keine Sache des Bundes. Wir hatten keine gesetzliche Grundlage und auch kein Geld dafür. Der Pandemieplan zeigt im Detail auf, wer was beschaffen sollte. Ich ging immer davon aus, dass sich jeder Akteur vorbereitet und seinen Job macht. Doch dann musste ich realisieren: Dem ist nicht so. Das hätten wir früher realisieren sollen.
Immerhin korrigierte das der Bundesrat mitten in der Krise.
Berset: Wir mussten mit der Armeeapotheke eine Beschaffungsstelle definieren, die das umsetzt. In der Phase der Schliessungen und von Homeoffice brauchte es viel weniger Masken. Uns war aber immer klar, dass Masken nötig werden, sobald wir lockern. Eines darf man aber nicht vergessen: Hätte jemand vor einem Jahr 300 Millionen Masken gekauft, hätte man ihn für verrückt erklärt. Solche Krisen zeigen, was man anpassen muss.
Eine Kinderzeichnung für Alain Berset.
© Zeichnung: Emilien Robert (5
8. April, Spiez: Der Corona-Test von Alain Berset
Alain Berset und sein Kommunikationschef Peter Lauener müssen sich schon um 6 Uhr früh Abstriche von Gaumen und Nasenhöhle machen lassen. Ein Coronatest ist nötig geworden, weil eine Mitarbeiterin des Generalsekretariats positiv getestet worden war. Die Abstriche werden ins Labor Spiez gefahren und sofort analysiert.
Um 11 Uhr wissen Berset und Lauener: ihre Tests sind negativ. Berset hat den ersten Teil der Bundesrats-Sitzung per Telefon mitgemacht. Er will das Gremium nicht gefährden. Für den zweiten Teil sitzt er wieder persönlich im Bundesratszimmer. Auch Viola Amherd hatte einen Coronatest machen lassen und – vermutlich – auch Guy Parmelin.
Beide fehlten in keiner Sitzung. Das zeigt: Offensichtlich hielten sich selbst im Bundesrat nicht alle an die generellen Quarantäne-Regeln.
16. April, Bern: Ausstieg in drei Phasen
An Ostern bleibt die Autobahn A2 vor dem Gotthard praktisch leer. Die Bevölkerung hat sich so diszipliniert an die Empfehlungen gehalten, dem Tessin fernzubleiben, dass der Bundesrat am 16. April den Ausstiegsplan in drei Phasen bekannt gibt.
Ab 27. April können Spitäler wieder alle Eingriffe vornehmen, Coiffeursalons, Massagepraxen und Kosmetiksalons dürfen öffnen.
In der zweiten und dritten Etappe vom 11. Mai und 8. Juni lockert der Bundesrat deutlich schneller als ursprünglich vorgesehen. Am 11. Mai öffnet er neben Schulen, Einkaufsläden und Märkten auch Restaurants, Bars und Fitness-Center. Und bereits am 6. Juni dürfen touristische Angebote öffnen. Veranstaltungen bis zu 300 Personen und spontane Versammlungen bis 30 Personen sind ab 8. Juni erlaubt.
Die Lockerungsstrategie bringt Berset und seinen Kollegen viel Kritik ein. Dürfen Restaurants schon am 11. Mai öffnen, weil GastroSuisse erfolgreich lobbyiert hat? Weshalb ist das Campingplätzen erst am 6. Juni erlaubt? Kohärenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheide, die beim Lockdown noch beeindruckten, gingen verloren. Selbst Justizministerin Karin Keller-Sutter kritisiert im Interview mit CH Media die Kommunikation des Bundesrats.
19. Juni, Bern: Die grosse Öffnung
Der Bundesrat lockert dennoch weiter: 1,5 statt 2 Meter Abstand, keine Polizeistunde und keine Homeoffice-Empfehlungen mehr – und Veranstaltungen bis 1000 Personen werden wieder erlaubt.
Die Stimmung im Medienzentrum wird fast ein wenig feierlich an jenem 19. Juni. Es brauche «einen Ruck», habe sie vor drei Monaten gesagt, hält Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga fest. «Heute können wir die ausserordentliche Lage beenden.» Sie hält einen Moment inne – ein Lächeln zieht über ihr Gesicht. Die Erleichterung von Sommaruga und Berset ist mit Händen greifbar, dass der Bundesrat seine Machtfülle abgeben kann, die er sich mit dem Notrecht zuschanzte.
Mit Erfolg, wie eine Studie der Deep Knowledge Group zeigt. Sie hat die Reaktion von 200 Ländern auf die Coronapandemie verglichen. Anfang Juni steht die Schweiz an der Spitze der Rangliste – wegen der gegenwärtig guten epidemiologischen Situation und der hohen Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft. Die Regierung landet in der Spartenbewertung hinter Deutschland und Israel auf Rang drei. Noch im April lag die Schweiz nur auf Rang elf.
Auch die jungen Epidemiologen Althaus und Salathé, inzwischen in die wissenschaftliche Task Force eingebunden, geben sich versöhnlich. «Die Zusammenarbeit mit dem BAG ist sehr gut», schreibt Salathé am 8. Juni auf Twitter. «Mein Vertrauen in die Politik ist hoch.» Althaus hält auf Twitter fest: «Wer hätte vor einigen Monaten gedacht, dass das BAG einmal die am häufigsten heruntergeladene App anbietet.» Salathé ist ihr Entwickler.
Wie haben Sie diese Krise durchgehalten?
Berset: Der Druck war sehr hoch. Man weiss nie im Voraus, ob man als Bundesrat eine solche Ausnahmesitatuation durchstehen kann. Die Antwort auf diese Frage erhält man erst, wenn man mit diesem Druck und dieser Ungewissheit umgehen muss. Ich bin sehr froh darüber, dass mir dies bisher gelang – mit meinem Team und der BAG-Taskforce.
Was hat die Krise im Bundesrat verändert?
Berset: Der Bundesrat ist als Gremium widerstandsfähig. Einmal hatten wir fünf Sitzungen an acht Tagen. Trotz hohem Druck war der Bundesrat immer beschlussfähig und entscheidungsreif. Die Krise zeigte: Wir können das.
Wie erklären Sie sich das?
Berset: Die Sitzungen waren sehr gut organisiert, strukturiert und moderiert. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga machte das hervorragend. Und die Bundesverwaltung hat in allen Departementen grossartige Leistungen abgeliefert. Sie hat kreative, schnelle Lösungen erarbeitet, sich vernetzt.
Spielten Sie gerne den Chef?
Berset: Das Gremium Bundesrat war der Chef. Das Epidemiengesetz gibt ihm zwar sehr viel Macht. Diese soll aber so kurz sein wie möglich. Schon Ende Februar begannen wir mit der Arbeit an den Lockerungen und wir standen immer im Austausch mit Kantonen, Parlament, Sozialpartnern und vielen weiteren Akteuren. Das Konzept nimmt nun die Kantone stark in die Pflicht. Sie müssen die Ansteckungen nachverfolgen. Föderalismus kann man eben nicht nur bei schönem Wetter leben.
Noch ist die Schweiz nicht über dem Berg. Am 24. Juni steigt die Zahl der Infizierten auf 44, am Donnerstag auf 52 und am Freitag auf 55. Sie ist so hoch wie letztmals am 11. Mai. Gesundheitsminister Berset bleibt vorsichtig.
«Wir müssen die Regeln beachten, das ist sehr zentral für die nächsten Tage, Wochen und Monate», sagt er an der Medienkonferenz. Und wiederholt ein zweites Mantra: Hände waschen. Abstand halten. Maske tragen, wo Abstand nicht möglich ist. Und, ja: Masken im ÖV sind «dringend» empfohlen.
Die Schweiz hat zwar inzwischen 200 Millionen Hygienemasken auf Lager. Dennoch bleibt die Maskenfrage die Achillesferse der Krisenbewältigung. Die ÖV-Benutzer in der Deutschschweiz wollen sie partout nicht tragen.
Drei Monate sind die Bürgerinnen und Bürger Krisenmanager Berset zuverlässig gefolgt. Jetzt aber bocken sie. Freiheitsdrang und Gewohnheit gewinnen die Oberhand.
Lob und Tadel: Stimmen zu «General Berset»
Die Leistung des Gesundheitsministers in der Coronakrise wird unterschiedlich beurteilt. Fünf Meinungen zur Leistung von Alain Berset.
Jens Spahn, deutscher Gesundheitsminister: «Mir fiel sofort auf, wie stilsicher er gekleidet ist»
Alain Berset mit Jens Spahn in Genf.
© BMG/Photothek – Alexander Heinl
Ruhig, besonnen, präzise – so habe ich Alain Berset vor zwei Jahren kennengelernt. Das war in Lindau am Bodensee, beim Treffen der deutschsprachigen Gesundheitsminister Europas. Als ich meinen Amtskollegen dort das erste Mal traf, fiel mir sofort auf, wie stilsicher er gekleidet ist. Ich kenne jedenfalls keinen anderen Spitzenpolitiker, der Hut tragen kann und dabei modern wirkt.
Einen guten Draht zueinander hatten wir direkt. Der hält bis heute. Wir sprechen offen und vertraulich miteinander. Häufig persönlich, in letzter Zeit zunehmend nur telefonisch oder per Videokonferenz. Da bewahrheitet sich einmal mehr, dass solche virtuellen Treffen eigentlich nur funktionieren, wenn es eine Basis gibt. Wenn sich die Beteiligten vorher persönlich kennen und schätzen. Bei uns ist das der Fall.
Für uns beide war ein Krisentreffen in Rom wegweisend im Kampf gegen Corona. Das Virus war in Europa angekommen, es wütete in Italien. Und uns beiden war klar: Dieser Pandemie müssen wir uns mit all unserer Kraft stellen. Zum Wohl unserer Bürgerinnen und Bürger. In der Krise muss der Staat, muss Politik Handlungsfähigkeit beweisen.
Alain Berset und ich haben den Kampf gegen das Virus nie nur als nationale Aufgabe begriffen. In Rom ging es um Grenzfragen. Wir beide haben darauf hingewiesen, wie eng die Anrainerstaaten Italiens miteinander verknüpft, wie wichtig ihr Austausch auch für die Gesundheitssysteme der Länder ist.
Ein Virus kennt keine Grenzen – so banal dieser Satz ist, so wahr ist er. Dieser Ansatz treibt uns auch, wenn wir uns in Genf treffen, am Sitz der WHO. Ich bin überzeugt: Es braucht eine starke internationale Gesundheitsorganisation, die über Landesgrenzen hinweg wirkt. Um Krisen früh zu erkennen und dann rechtzeitig eingreifen zu können. Ich bin froh, Alain Berset auch bei diesem Ziel als Mitstreiter zu haben.
Natalie Rickli, Gesundheitsdirektorin des Kantons Zürich: «Die Leistungen der Spitäler besser würdigen»
Bundesrat Alain Berset und die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli besuchen gemeinsam ein Altersheim.
© Keystone
Als Gesundheitsdirektorin spürte ich, dass es Bundesrat Berset wichtig ist, zu erfahren, wie die Kantone die Situation beurteilen. Besonders gefreut hat mich seine Visite in Zürich. Wir konnten in einem Alterszentrum erstmals mit einer 92-jährigen Bewohnerin in einer Besucherbox sprechen.
Die Zusammenarbeit mit Alain Berset war immer professionell, wie auch die des Kantonsärztlichen Dienstes mit dem BAG. Die Schweiz hat auch dank ihm und dem Bundesrat die Krise nach bestem Wissen und Gewissen gut meistern können. Die Deutschschweiz wurde dank frühen Massnahmen besser geschützt als das Tessin und die Romandie.
Natürlich gibt es auch Meinungsverschiedenheiten: Während zwei Monaten durften die Spitäler – vom Bund verordnet – kaum Operationen durchführen. In den Büchern der Spitäler klafft ein millionenschweres Loch. Ich bin der Ansicht, dass sich neben dem Kanton auch der Bund an diesen Schäden der Spitäler beteiligen muss.
Hier würde ich mir wünschen, dass Alain Berset die Leistungen der Spitäler und Angestellten noch besser würdigt.
Victor Schmid, Partner der Hirzel.Neef.Schmid.Konsulenten: «Berset’s Profilierungsmaschiene Corona»
Bundesrat Alain Berset war, was man in der Kommunikation als falsch profiliert bezeichnet – mit chicen Hüten zwar und einem eitlen Bildband. Mit dem Rückenwind schlimmster Corona-Bilder aus Bergamo erhielt Berset seine Bühne. Er durfte regieren, was ihm eigentlich zu liegen scheint – und die Schweizer Bevölkerung in den Lockdown schicken, als sei es das normalste der Welt.
Das kann nur einer, der an den Staat glaubt. Dazu gehört der «eigene» TV-Kanal – Pressekonferenz in alle Haushalte. Berset wurde präsent und kommunikativ fassbar als überlegter und auch mal witziger moderner Landesvater, dem man alles abnimmt. Zusammen mit seinem Terminator Daniel Koch, dem Star wider Willen, der in devoter Art (aber mit täglich neuen Krawatten ähnlich eitel) seinem Chef Berset zudiente, war das kommunikative Dreamteam geschaffen.
Und sie haben kommunikativ alles richtig gemacht. Klare Ansage, einfache, nachvollziehbare Botschaften, Kommunikation nicht abbrechen lassen – und die Bildsprache hervorragend eingesetzt. Krisenkommunikation wie aus dem Lehrbuch. Und es hat funktioniert.
Der Bruch erfolgte, als die Kommunikation immer weniger nachvollziehbar wurde. Kaviar und Zahnpasta Im Laden erlaubt, der Lippenstift in der abgesperrten Zone in Griffweite nicht. Als dann das Versäumnis nicht genügend eingelagerter Masken behoben war und nun Masken plötzlich doch nicht mehr so schlecht waren, kippte die Stimmung.
Aber die Fallzahlen gingen zurück. Alain Berset war erfolgreich. Solange das Damoklesschwert der zweiten Welle über uns schwebt, bleibt er kommunikativ klar positioniert: Er wird jederzeit wieder eingreifen. Eigentlich müsste er sich eine zweite Welle wünschen – nur aus kommunikativer Sicht natürlich.
Tanja Stadler, ETH-Professorin für Biosysteme: «Die letzten Lockerungen kamen sehr schnell»
Grundsätzlich hat der Bundesrat im März sehr entschlossen reagiert. Er schaffte es mit dem Lockdown light, das Kollabieren des Gesundheitssystems zu verhindern.
In dieser Zeit gelang es dem Bundesrat, die Bevölkerung durch sehr gute Kommunikation für die Ernsthaftigkeit der Situation zu sensibilisieren. Die Lockerungen der letzten Wochen waren sehr schnell. Leider können wir somit nicht evaluieren, welche Lockerungen einen Anstieg der Fälle auslösen. Dies erschwert zukünftige Entscheide.
Aus epidemiologischer Sicht müssen alle Lockerungen mit spezifischen Schutzmassnahmen begleitet werden. Intensives Testen, Kontaktnachverfolgungen, Quarantäne und Isolation sind zentral. Dies ergänzt Hygiene-Massnahmen und Abstand halten, und, wenn nicht möglich, Schutz durch Masken. In den letzten Tagen hatten wir einen leichten Anstieg der Fallzahlen.
Wir müssen sehr vorsichtig sein, um ein Wiederaufflammen der Epidemie zu vermeiden. Ich werde im vollen ÖV eine Maske tragen – eine extrem sinnvolle Empfehlung!
Casimir Platzer, Präsident Gastrosuisse: «Eine Phase der Ungleichbehandlung und Inkonsequenz»
Die Pandemie ist noch nicht überstanden. Was richtig war, wird sich erst später weisen. Dennoch: Der Bundesrat hat zu Beginn der Krise aus epidemiologischer Sicht richtig gehandelt, handeln müssen.
Die drastischen Massnahmen waren im Wesentlichen nachvollziehbar, wenn auch extrem schmerzhaft. Als Affront gegen das Gastgewerbe im Branchengedächtnis haften bleiben wird die Nicht-Kommunikation des Bundesrates am 16. April 2020. Daraufhin folgten die Lockerungsentscheide schneller als erwartet. Gleichzeitig setzte eine Phase der Ungleichbehandlung und Inkonsequenz ein.
Unverständlich, weshalb im Restaurant der 2-Meter-Abstand zwingend blieb, obwohl dieser überall gelockert wurde. Unverständlich, dass eine Bar um Mitternacht schliessen musste, Casinos hingegen nicht. Unverständlich auch, weshalb in einer Disco stehend konsumiert werden durfte, im Restaurant aber nicht. Dabei griff der Bundesrat tief ins Mikro-Management ein und agierte wenig praxisnah.
Umso erfreulicher, dass mit dem Lockerungsschritt vom 22. Juni wichtige Korrekturen vorgenommen wurden. Doch Normalität wird noch lange nicht herrschen. Auch das Gastgewerbe wird nachhaltig unter den Nachwehen der Krise leiden. Meine Hauptsorge gilt den vielen Betrieben mit existenziellen Sorgen.