Vollgeld – eine riskante Spekulation?

Uns Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern wird einiges zugemutet. Immer öfter müssen wir über Vorlagen entscheiden, deren Inhalt nur schwer zu verstehen ist – und deren Auswirkungen kaum voraussehbar sind. Ein Musterbeispiel ist die «Vollgeld»-Initiative, die am 10. Juni zur Abstimmung kommt. Im vollen Wortlaut heisst der Titel des Begehrens «Für krisensicheres Geld: Geldschöpfung allein durch die Nationalbank» – was im Erklärungsnotstand auch nicht wirklich weiterhilft. Ziel der Initiantinnen und Initianten ist, das Finanzsystem umzukrempeln, indem allein die Schweizerische Nationalbank (SNB) Geld ausgeben darf – Geschäftsbanken dürfen kein Buchgeld mehr generieren.

Sehen Sie und ich unsere Gehaltszahlungen je in physischen Franken und Rappen? Unser Lohn schlägt sich am Monatsende als Gutschrift auf dem Bankkonto nieder. Begleichen wir Rechnungen per Zahlungsanweisung, bezahlen im Ladengeschäft oder Restaurant mit der Kreditkarte, wird Geld zu etwas Virtuellem. Die Feststellung der Initianten, Geschäftsbanken könnten «Geld aus dem Nichts» schöpfen, ist nicht völlig falsch – und die Aussage, unser Buchgeldsystem basiere auf Schulden, ist durchaus richtig.

Im Kern will die sogenannte Vollgeld-Initiative der Nationalbank auch die Hoheit über elektronisches Geld einräumen. «Mit der Vollgeldreform wird lediglich das 1891 vom Stimmvolk beschlossene Banknotenmonopol auf das elektronische Buchgeld ausgeweitet und so an die digitale Entwicklung angepasst», schreiben die Initianten auf ihrer Website. Dagegen ist nichts einzuwenden und es wird auch nichts Revolutionäres gefordert. Schon heute können sich Geschäftsbanken, wenn sie «Geld schöpfen», nicht bereichern. Vergeben sie einen Kredit, müssen sie den Betrag gleichzeitig auf der Aktivseite und auf der Passivseite verbuchen. Guthaben und Verbindlichkeiten steigen im gleichen Umfang.

Das Delegieren der Geldschöpfung an die Nationalbank wäre so gesehen eine unspektakuläre Umstellung in der Bilanz. Allerdings haben die Vollgeldbefürworter den Verfassungsartikel so formuliert, dass die Reform radikal ausfallen würde. Sie wollen, dass die Nationalbank neues Geld schuldenfrei in Umlauf bringt, indem sie es an Bund und Kantone verteilt. «Dadurch entstehen für die öffentliche Hand jährliche Mehreinnahmen von 5 bis 10 Milliarden», heisst es auf der Website. Die Befürworter sprechen von einem doppelten Effekt. Ihre Initiative entmachte die Geschäftsbanken und erschliesse dem Staat eine neue Geldquelle. Eine schuldenfreie Geldausgabe zugunsten des Bundes und der Kantone – das würde einer «Verpolitisierung» der Geldpolitik massiven Vorschub leisten.

Voll- oder Realgeld würde zwingend dann entstehen, wenn wir zur Goldparität aus der Zeit unserer Grosseltern zurückkehren würden. Keine gute Idee, weil Gold zu einem Rohstoff unter vielen geworden ist. Entsprechend volatil ist sein Preis, weshalb Gold-Franken und Co. heute für eine funktionierende Volkswirtschaft keine währungspolitischen Themen mehr sein können. Das sehen die Initianten auch so und wollen einen Weg beschreiten, den noch kein Staat beschritten hat.

Zugegeben: Die Vollgeld-Initiative ist ein interessantes Gedankenexperiment. Ein solches gehört jedoch in ein wissenschaftliches Seminar und nicht in die Bundesverfassung. Kein Land der Welt hat ein Vollgeld-System. Die Folgen wären höchst ungewiss. Die Schweiz würde Versuchskaninchen in einem riskanten Experiment und würde exakt das machen, was die Initianten an den Finanzmärkten kritisieren: eine Hochrisiko-Spekulation.