
Was die 15er-Gruppen-Regel mit uns macht
15 ist die neue 5, zumindest im Garten, im Wald und auf dem Spielplatz. Seit Montag dürfen wir uns wieder als grosse Gruppe sehen und zusammen draussen rumstehen. Mit gebührendem Abstand natürlich, aber immerhin ohne Maske. Vereins- und Gemeindeanlässe zählen jedoch nicht zu spontanen Treffen und sind nicht erlaubt.
Trotzdem: Endlich wieder ein Bier mit Freundinnen und Freunden trinken und dabei nicht abzählen, wer schon da ist und wer noch kommen darf. Wir können den Coronapolizisten in uns, der Verstösse gegen die 5er-Regel schon von Weitem ahndete, wieder in den Schrank stellen.
Fünfzehn ist mehr, als die meisten gute Freund haben
15 Menschen in einer Runde, das sind für uns Zwangsvereinzelte plötzlich ganz schön viel Menschen auf einem Haufen. Das sind mehr Personen als auf dem Foto nebenan, mehr als die meisten Menschen gute Freunde haben (fünf Freunde gilt hier als der glücklichmachende Durchschnitt). Mit 15 Menschen wird es etwas unübersichtlich und unorganisiert. Wer kommt da noch nach mit zählen, einschenken und zuhören? Und sind diese 15 alles Freundinnen und Freunde oder eben nur noch Bekannte?
Wie kommt der Bundesrat eigentlich auf diese ominöse Zahl, die wir im Herbst 2020 schon mal durchexerziert haben? Nun, ganz aus der Luft gegriffen ist die Zahl 15 als Gruppengrösse nicht, zumindest aus soziologischer Sicht. In den 1990er-Jahren entwickelten Wissenschafter die Hypothese vom «sozialen Gehirn», das abhängig von der Intensität der Beziehung schlicht nur jeweils eine bestimmte Anzahl Artgenossen verarbeiten könne. Oder anders ausgedrückt: Je enger die Bindung, desto weniger Angehörige ordnet man dieser Gruppe selbst zu.
Sobald eine maximale Grösse überschritten und dadurch das Gehirn überfordert wäre, drohten soziale Instabilität und schliesslich Spaltung.
Und jetzt wird es erst interessant: Wissenschafter der Universität Liverpool um Robin Dunbar rechneten vor einigen Jahren aus, dass sich die Gruppengrösse stets um den Faktor 3 vergrössert. Von 5 sehr engen Freunden oder Familienmitglieder, die man fast täglich sieht, auf 15 gute Bekannte um dann rund 45 Personen im erweiterten Kreis. Auch bei Naturvölkern zeigten sich ähnliche Zahlen.
Sich in spontan zu Treffen ist nicht mehr illegal
Die Zahl 15 umreisst also unseren erweiterten Sozialkontakte ziemlich exakt. Sie bedeutet auch, dass wir aus unserer freiwilligen oder unfreiwilligen Corona-Bubble ausbrechen dürfen. Wir dürfen wieder die Herdentiere sein, die wir aller Individualität zum Trotz immer noch sind. Wir dürfen zumindest draussen wieder Geburtstage feiern, die sich auch wirklich nach Feier und nicht nach stiller Einkehr anfühlen. Wir können die Nachbarn wieder spontan über den Gartenhaag einladen, ohne dass daraus ein Politikum im ganzen Quartier wird. Wir können sonntags zusammen spazieren und wenn wir eine andere Familie treffen, dann spazieren wir einfach gemeinsam weiter.
Wir müssen dazugehören, wir sind ultrasozial
Von der Evolutionsbiologie wissen wir, dass Menschen eine höhere soziale Kompetenz haben als alle anderen Säugetiere. Wir sind ultrasoziale Wesen. Die Pandemie hat uns jedoch verunmöglicht eines unserer wichtigsten Bedürfnisse zu stillen, nämlich ein Teil einer grösseren Gemeinschaft zu sein. Manche haben darunter mehr gelitten als andere. Manche konnten es sich eingestehen, andere wurde einfach nur sehr traurig oder wütend.
Obwohl, es muss auch erwähnt sein, dass es nicht nur übel war, sich sozial etwas zu beschränken – im besten Fall auf das Wesentliche. Eine ältere Nachbarin hat ihre Gratulanten auf dem Balkon empfangen. Dankbar, dass sie die ganze Schar mit 79 Jahren nicht in der eigenen Wohnung bewirten musste. Schwieriger war es für Familien: Eltern, drei Kinder und voll war das 5er-Kontigent. Keine Wahlfreiheit bei der persönlichen Corona-Bubble, ausser man steckt die Kinder in den Keller, wenn sich Besuch ankündigte. Familiäre Sonntagstreffen mussten ausgesetzt, illegal durchgeführt oder besser kreativ umgesetzt werden: Die Väter trafen sich mit den Kindern im Haus, die Mütter spazierten derweil zu zweit am See entlang. Danke Corona, darauf hätte man auch vorher mal kommen können.
Keine Mensch lebt ganz für sich
Der amerikanische Soziologe Nicholas Christakis ist Experte für soziale Netzwerke und forscht seit Jahrzehnten in Yale zum Thema. Er sagt:
«Wir leben alle in einem menschlichen Superorganismus. Dessen Leben ist viel komplexer als das jeder Einzelperson.»
Es sei ein dichtes soziales Geflecht, das sich ständig verändert – als würde es leben, atmen und sich erinnern. Ideen verbreiten sich darin, aber eben auch Krankheitserreger.
Nun wird es langsam Zeit diesen Superorganismus wieder zum Leben zu erwecken. Ich werde heute Abend zu einer Freundin fahren, sie hat Geburtstag. Ich habe sie in den letzten Monaten viel gesehen, sie gehörte zu meiner Corona-Bubble. Aber heute Abend werden nicht nur wir zwei sein, es werden 13 andere dort sein. Es wird vielleicht laut werden, vielleicht aber auch überraschend still, weil wir verlernt haben, über Belangloses zu reden, zumal es nicht viel Belangloses gibt gerade. Ich werde um das Feuer stehen und in diese vielen Gesichter sehen und vielleicht einfach zuhören: dem Geplapper, dem Gelächter, dem Klirren von Sektgläsern und dem Zischen von Feuerzeugen. Diese Geräuschkulisse, die entsteht, wenn Menschen zusammenstehen, wenn der Superorganismus wieder zu atmen beginnt.