Was eine Aargauer Spitexmitarbeiterin bei ihren Hausbesuchen in Pandemiezeiten erlebt

Zwischen ein paar Efeublättern am Türrahmen des Einfamilienhauses ist ein kleines Kästchen mit Zahlenschloss angebracht. Silvia Böni wirft einen Blick auf ihr Tablet, stellt den richtigen Code ein und entnimmt dem Kästchen den Hausschlüssel. Sie klingelt, schliesst auf, tritt ein. «Hallo, die Spitex ist da!»

Ralf Bucher* sitzt im Rollstuhl am Esstisch, vor sich ein Glas Wasser, die Lesebrille und die Tageszeitung. Es ist kurz vor 10 Uhr. «Hoi Ralf. Wie geht es dir heute?», fragt Böni. «Eigentlich gut», sagt er. Bucher ist weit über 80 Jahre alt. Er hat vor einigen Jahren einen Schlaganfall erlitten, ist seither teilweise gelähmt. «Und auch das im Kopf will nicht mehr so richtig», sagt er, fügt dann verlegen lächelnd an die Spitex-Frau gewandt an: «Du musst entschuldigen. Jetzt weiss ich deinen Namen schon wieder nicht mehr.»

«Silvia», antwortet sie, während sie ihm die Manschette des Blutdruckgeräts über den Arm streift. In der Regel sei sie mit ihren Kundinnen und Kunden nicht per Du, erklärt sie. Aber: Die beiden kannten sich schon, bevor sie ihn als Spitex-Angestellte betreute – «deshalb die Ausnahme».

Der Blutdruck ist zunächst etwas hoch – «wohl wegen der Aufregung».

Der Blutdruck ist zunächst etwas hoch – «wohl wegen der Aufregung».

Nadine Böni / Aargauer Zeitung

Der Blutdruck ist etwas hoch. «Aber das ist sicher die Aufregung, gäll Ralf», sagt sie. Schliesslich ist heute die Journalistin dabei.

Silvia Böni ist eine von rund 120 Mitarbeitenden, die bei der Spitex Fricktal AG tätig sind. Ein Grossteil von ihnen sind diplomierte Pflegekräfte oder Fachangestellte Gesundheit. Die Spitex Fricktal AG erbringt Dienstleistungen im Auftrag von 21 Fricktaler Gemeinden. Im vergangenen Jahr betreute sie über 1000 Kundinnen und Kunden, allein der Standort Möhlin leistete über 11’000 Pflegestunden bei über 25’000 Kundenbesuchen.

Gerade während der Pandemie sei ihr vor Augen geführt worden, welch wichtige Rolle die Mitarbeitenden im Leben vieler Kundinnen und Kunden einnehmen, sagt Tina Stühlinger, die stellvertretende Geschäftsführerin und Bildungsverantwortliche der Spitex Fricktal AG. «Sie sind wichtige Bezugspersonen.» Während der Pandemie seien die Mitarbeitenden teils die einzigen sozialen Kontakte der betagten und gesundheitlich angeschlagenen Menschen.

Silvia Böni spürt das fast täglich bei der Arbeit. «Einigen Kundinnen und Kunden hat die soziale Interaktion sehr gefehlt», sagt sie.

«Wir haben gemerkt, dass sie teilweise ihre Lebensfreude verloren oder weitere körperliche Beschwerden entwickelt haben, weil sie weniger draussen waren und ihnen die Bewegung fehlte.»

Seit seinem Schlaganfall wird Ralf Bucher im Haushalt von einer privaten 24-Stunden-Betreuerin unterstützt. Die Spitex kommt täglich vorbei, hilft bei der Körperpflege und dem Ankleiden. Zur Betreuung gehört auch, «die Ressourcen der Kundinnen und Kunden zu fördern», wie Böni erklärt. Oder anders gesagt: Die Kundinnen und Kunden sollen ihre Fähigkeiten einsetzen, um sie zu bewahren. Nach dem Blutdruckmessen lässt Silvia Böni ihren Kunden etwa aufstehen, begleitet ihn am Rollator zum Bad. «Lauftraining», sagt sie.

Mit jemand Fremdem in der Dusche

Tina Stühlinger, stellvertretende Geschäftsführerin Spitex Fricktal.

Tina Stühlinger, stellvertretende Geschäftsführerin Spitex Fricktal.

Claus Pfisterer/zvg

Es ist Duschtag. «Natürlich war es zunächst ungewohnt, dass mir jemand beim Duschen hilft. Das hat etwas Überwindung gebraucht», sagt Bucher. «Aber es ist eine Frage der Gewohnheit. Die Spitex-Mitarbeitenden machen einfach ihren Job.»

Ein Job, der gerade durch die körperliche Nähe zu den Kundinnen und Kunden auch eine Herausforderung ist. Tina Stühlinger erklärt:

«Wir müssen uns bewusst sein, dass wir weit in die Privat- und teilweise Intimsphäre der Kundinnen und Kunden eintreten und müssen das entsprechend mit Würde tun.»

Wichtig sei deshalb «ein gutes Gespür für Nähe und Distanz – und auch Humor hilft». Der kann unangenehm anmutende Situationen einfacher machen. Etwa das Duschen.

Silvia Böni und Ralf Bucher scherzen über kitzlige Füsse und Anti-Schuppen-Shampoo, während er sich die Haare einseift. Der Umgang zwischen ihnen wirkt locker und vertraut. Böni ist bereits seit mehreren Jahren immer wieder bei Bucher im Einsatz. «Da spricht man auch ab und zu mal über private Angelegenheiten miteinander», sagt sie. Und er fügt mit einem kurzen Grinsen an: «Die Geheimnisse sind bei mir sicher. Ich vergesse ja das meiste gleich wieder.»

Spitex-Mitarbeiterin Silvia Böni begleitet den Kunden mit dem Rollator ins Badezimmer.

Spitex-Mitarbeiterin Silvia Böni begleitet den Kunden mit dem Rollator ins Badezimmer.

Nadine Böni / Aargauer Zeitung

Nach dem Duschen zieht die Spitex-Frau ihrem Kunden die Stützstrümpfe über, rapportiert anschliessend digital seinen Gesundheitszustand. Veränderungen würden so auffallen, selbst wenn aufgrund der komplexen Dienstplanung immer wieder andere Spitex-Mitarbeitende bei Bucher im Einsatz sind.

Angst vor einer Ansteckung

Gerade auch das wurde während der Pandemie zum Thema – weil sich Kundinnen und Kunden oder deren Angehörige vor einer Ansteckung fürchteten. Es seien ab und zu Fragen eingegangen und vereinzelt auch Termine abgesagt worden, sagt Tina Stühlinger. Die Spitex Fricktal AG hat daher schon früh einen Pandemiestab eingerichtet, der sich unter anderem um solche Fragen kümmert. Stühlinger sagt:

«Wir versuchen, offen und transparent zu kommunizieren und den Menschen so die Angst zu nehmen.»

Und natürlich galt und gilt: Sicherheit geht vor. Die Spitex Fricktal AG hat ein mehrseitiges Regelwerk zum Umgang mit Corona erarbeitet. Das hat bisher gut funktioniert. Bis heute sei lediglich eine einstellige Anzahl Kundinnen und Kunden sowie Mitarbeitende positiv auf Corona getestet worden, so Stühlinger. Ansteckungen zwischen Mitarbeitenden und Kundinnen und Kunden habe es keine gegeben.

Die Spitex Fricktal AG hat ihren Mitarbeitenden bereits im Frühjahr empfohlen, sich impfen zu lassen und erlaubt dies auch während der Arbeitszeit. Aus Datenschutzgründen gäbe es keine Erhebung, wie viele Mitarbeitende inzwischen geimpft seien, so Stühlinger. «Ich gehe aber davon aus, dass es zwischen 70 und 80 Prozent sind.»

Im Rapport hält Silvia Böni den Gesundheitszustand des Kunden fest.

Im Rapport hält Silvia Böni den Gesundheitszustand des Kunden fest.

Nadine Böni / Aargauer Zeitung

Ralf Bucher sitzt inzwischen frisch geduscht und wieder angezogen im Rollstuhl. Er habe sich stets wohl gefühlt im Umgang mit den Spitex-Mitarbeitenden, sagt er.

«Es gibt mir ein gutes Gefühl, dass sie sich professionell verhalten und alle Schutzvorkehrungen beachten.»

Dank der Spitex könne er trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen im eigenen Haus leben. «Dafür bin ich sehr, sehr dankbar», sagt Bucher.

«Na, wie fühlst du dich jetzt?», fragt Silvia Böni. «Ganz wunderbar», sagt er. Sie nickt zufrieden, verabschiedet sich und zieht die Haustür hinter sich zu. «Das ist es, was mir an meinem Job so viel Freude bereitet: Zu merken, dass ich jemandem helfen kann und er sich wohl fühlt», sagt sie mit einem Lächeln, bevor sie ins Auto steigt und zum nächsten Kunden fährt.

*Name geändert