
Was haben wir aus der Coronakrise gelernt? Aargauer Pflegeheimexperte zieht eine ungeschönte Zwischenbilanz

Ein Schritt in Richtung Normalisierung ist geschafft: Sämtliche Bewohner der Aargauer Alters- und Pflegeheime, die wollten, sind seit Ende letzter Woche geimpft. Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati sprach bei der letzten Impfung von einem «ersten wichtigen Etappenziel», das erreicht sei.
Das unterstreicht Andre Rotzetter, Geschäftsführer des Vereins für Altersbetreuung im oberen Fricktal (VAOF) und CVP-Grossrat. Er hat mit seinen beiden Alterszentren, jenem in Frick und jenem in Laufenburg, hautnah miterlebt, was es heisst, wenn das Coronavirus in einem Altersheim wütet.
In beiden Zentren kam es Ende letzten Jahres zu Infektionsketten, von denen bis heute nicht klar ist, wie sie ins Heim kamen. «Es müssen mehrere asymptomatische Infektionsketten fast zeitgleich aufgetreten sein», sagt Rotzetter. «Das machte ein rechtzeitiges Reagieren unmöglich.» Es blieb nur ein Weg: die Durchseuchung.
Die Bilanz ist traurig: Fast 80 Prozent Bewohner erkrankten an Corona, im Dezember und Januar starben 52 Bewohner. Jeder Vierte. Die meisten von ihnen an Corona.
Die beiden VAOF-Heime gehörten zu den ersten im Aargau, die durchgeimpft waren. «Ein wichtiger Schritt, um den Bewohnern wieder mehr Handlungsraum zu geben und Besuche zu ermöglichen», sagt Rotzetter. Welche Erkenntnisse zieht er aus der Coronapandemie, welche die Schweiz und die Welt seit nunmehr gut einem Jahr in Atem hält?
Das Image «Todeszone» ist realitätsfremd.
Immer wieder bekommt Rotzetter zu hören, dass die Alterszentren in der Coronapandemie zu eigentlichen «Todeszonen» mutiert sind. «Solche Aussagen ärgern mich, denn sie ist dumm und falsch.» Natürlich treffe es ein Alterszentrum hart, wenn sich das Coronavirus im Heim ausbreite. «Aber das liegt daran, dass hier die am meisten Gefährdeten leben», so Rotzetter.
Zudem vergesse man, wenn man die nackten Zahlen betrachte, dass auch ohne Coronavirus rund ein Drittel der Bewohner pro Jahr stirbt. «Das Alters- und Pflegeheim ist die letzte Station auf dem Lebensweg.» Zudem: «Alle Bewohner, die wollten, sind nun geimpft. Damit sind die Altersheime heute der sicherste Ort für betagte Menschen», ist Rotzetter überzeugt. Seit die beiden VAOF-Heime durchgeimpft sind, «hatten wir weder eine Coronaansteckung noch einen -todesfall.»
Bislang hatten wir Glück.
In seinen beiden Alterszentren hat Andre Rotzetter im Dezember erlebt, was es heisst, wenn das Coronavirus wirklich wütet, wenn die Pandemie voll ausbricht. «Ich hoffe, so etwas nie mehr erleben zu müssen», sagt er und ist zugleich überzeugt: «Als Gesamtgesellschaft hatten wir bislang auch viel Glück, dass das Virus nicht zu einer noch gefährlicheren Variante mutiert ist.» Dieses Glück dürfe man nicht herausfordern, mahnt er.
Rotzetter hat denn auch «null Verständnis» für Menschen, welche die Pandemie verharmlosen. «Das ist brandgefährlich», sagt er. Vor wenigen Tagen hat er einen Film über die Spanische Grippe gesehen. «Der Film hat mich aufgewühlt und mir gezeigt, was es heisst, wenn ein Virus wirklich wütet.»
Die Wirkung in den Vordergrund stellen.
Dass die Impfung auch Nebenwirkungen hat, weiss Rotzetter. «Die gibt es bei jeder Impfung und jedem Medikament.» Wenn nun Politiker diese Nebenwirkungen in den Vordergrund stellen, hält er das «für den falschen Weg». Der Nutzen sei «immens viel grösser». Deshalb sagt er jedem, der ihn fragt: «Lass dich impfen.»
Die Alterszentren bilden die Gesellschaft im Kleinen ab.
Die Alterszentren bilden für Rotzetter die Gesellschaft im Kleinen ab, sind eine Art Suisse miniature. «In der Coronafrage sind wir der Gesellschaft drei bis vier Monate voraus», sagt der VAOF-Geschäftsführer. Die Diskussionen über Gefahren, Impfungen und die Rückkehr zu den alten Freiheiten seien in den Heimen ganz ähnlich geführt worden. «Wir können von den Erfahrungen aus den Heimen lernen.» Etwa, dass eine Herdenimmunität wirklich funktioniert: Seit Weihnachten ist in den beiden VAOF-Heimen kein neuer Coronafall aufgetreten.
Die Sorge mit den Sorgen.
Auf der Heimfahrt hörte Rotzetter kürzlich einen Song im Radio, in dem der Sänger die Gesellschaft mit ihren scheinbar grossen Sorgen auf die Schippe nimmt – etwa jene, dass die Sonne nicht scheint oder jene, dass das Internet wieder einmal zu langsam ist. Rotzetter lacht, bitter. «Während sich die einen um ihre Freiheit sorgen, weil sie mit einer Maske herumlaufen müssen, sorgen sich andere um ihr Leben.» Er spricht von alten Menschen und Personen mit Vorerkrankungen, für die das Coronavirus lebensgefährlich werden kann. «Die Gesellschaft driftet derzeit auseinander und das macht mir Sorgen.»
Politik und Gesellschaft sind träge unterwegs.
Die Schweiz rühme sich, in der Coronakrise schnell unterwegs zu sein, so Rotzetter. Taten statt Worte, laute die Ansage. Nur: «Wenn ich mit dem Wirt rede, der um seine Existenz bangt, oder dem Künstler, der nach wie vor auf eine finanzielle Hilfe wartet, stürzt dieses Bild zusammen wie ein Kartenhaus.» Die Diskrepanz zwischen Wort und Tat sei immens, sagt Rotzetter. «Das müssen wir ändern und bei der Hilfe an Tempo zulegen.»
Die Leistungen des Pflegepersonals honorieren.
Am Anfang gab es für das Pflegepersonal, das zum Teil bis zur Erschöpfung arbeitet, noch Applaus. «Heute halten ihren Einsatz viele für selbstverständlich.» Dass sie dann auch noch angefeindet werden, «finde ich das Hinterletzte». Rotzetter hat es in den beiden VAOF-Heimen selber erlebt. Er fordert «mehr Respekt». Dieser fehle oft gerade in den sozialen Medien. «Was man da liest, ist hanebüchen.» Wer wie er selbst erlebt habe, was Corona anrichten könne, könne das «schlicht nicht nachvollziehen».
Ein permanentes Learning-by-doing.
Ein Jahr sind wir nun, zwangsweise, mit dem Coronavirus unterwegs. «Jeden Tag kommt neues Wissen hinzu», sagt Rotzetter. Das sei gut und wichtig. «Auch wenn wir nicht sagen können, ob dieses Wissen, das wir heute haben, zu 100 Prozent richtig ist.» Der Umgang mit dem Virus sei ein permanenter Lernprozess, so Rotzetter. Eine Sicherheit gebe es nicht. Beispiel Impfung: «Heute kann niemand sagen, ob die Impfung auch längerfristig vor einer Ansteckung schützt – schlicht, weil wir keine Erfahrungswerte haben.» Die Ungewissheit gehöre zum «Spiel», so Rotzetter.
Das trifft auch die Alterszentren. «Wenn wir nun die Alterszentren schrittweise wieder für Besucher öffnen, kann uns kein Experte sagen, ob dieser Schritt richtig ist.» Das einzige, was man tun könne, sei nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. «Und das versuchen alle Pflegeinstitutionen», versichert Rotzetter, der zugleich Spartenpräsident Pflegeinstitutionen beim Verband der Spitäler, Kliniken und Pflegeinstitutionen im Kanton Aargau (vaka) ist. Er wünscht sich, dass sich auch jene, die immer sofort und an vorderster Front ausrufen, wenn etwas passiert, dieser systemimmanenten Ungewissheit, diesem Learning-by-doing bewusst werden.
Die Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Zwei Grundmuster hat Rotzetter in den Alters- und Pflegeeinrichtungen im Umgang mit Corona beobachtet: Die einen akzeptieren ein Restrisiko und geben den Menschen – gerade auch den Bewohnern in Alterszentren – so viel Freiheit, wie es die Situation erlaubt. Die anderen wollen 100 Prozent Sicherheit und «ersticken so das Leben». Für Rotzetter ist dies der falsche Weg. «Eine absolute Sicherheit gibt es nicht und die Angst ist ein schlechter Ratgeber.» Im Kleinen wie im Grossen. «Sie führt in die Isolation – und das darf nicht sein.»
Die Privilegien-Debatte ist falsch aufgezäumt.
Sollen Geimpfte schneller Freiheiten zurückerhalten als Nicht-Geimpfte? Die Debatte läuft heiss, für Rotzetter aber unter dem falschen Schlagwort: Privilegien. «Es geht nicht um Privilegien, sondern darum, dass wir unsere Grundrechte zurückerhalten.» Rotzetter kann sich hier durchaus eine gestufte Rückkehr vorstellen. «Schliesslich profitieren die Nicht-Geimpften von der Herdenimmunität, die ihnen die Geimpften ermöglichen.»
Als Beispiel nimmt er seine Heime, in denen sich rund 95 Prozent der Bewohner haben impfen lassen. «Die fünf Prozent Nicht-Geimpften profitieren davon, dass das Virus aufgrund der Herdenimmunität nicht mehr grossflächig im Altersheim ausbrechen kann.» Je mehr Menschen dank der Impfung ein normales Leben führen können, desto mehr profitieren auch andere – «etwa die Wirte, die wieder bewirten können», ist Rotzetter überzeugt.
Das Halbwissen ist eine der grössten Gefahren.
Aus den vielen Gesprächen, die er als Politiker, Geschäftsführer und vaka-Spartenpräsident geführt hat, weiss Rotzetter: «Das Halbwissen hat in den letzten Monaten leider nicht ab-, sondern noch zugenommen.» Dies sei der beste Nährboden «für Unsinn und Verschwörungstheorien». Dies belaste nicht nur den gesellschaftlichen Dialog, sondern belaste Freundschaften und spalte Familien. Hier wünscht er sich, im Gegensatz zum Tempo bei den Impfungen, mehr Zurückhaltung.
Das Virus werden wir nicht los.
Dass wir das Coronavirus wieder loswerden, glaubt Rotzetter nicht. «Wir müssen lernen, mit ihm zu leben», sagt er. Dank den Impfungen werde sich aber zumindest des Leben wieder normalisieren. Ganz? Rotzetter zuckt die Schultern. «Ich hoffe es.» Und: «Ich hoffe, dass das Virus bei weiteren Mutationen nicht noch gefährlicher wird.»