
Weg von der «Spinnst du eigentlich»-Kultur
Begonnen hat alles kurz vor Weihnachten. Doch Geschenke will Timo Lippuner keine verteilen. Im Gegenteil: Mit dem 39-Jährigen soll im Schweizer Frauenvolleyball vieles anders werden. Er sagt: «Der Weg in die NLA ist zurzeit zu einfach.» Dem Ex-Nationaltrainer fehlt die Leistungskultur.
Lippuner ist an Heiligabend auf dem Weg von Deutschland in die Schweiz, als sein Handy klingelt. Der Trainer des Bundesligisten Rote Raben Vilsbiburg will ein paar Tage in der Heimat verbringen. Am Schluss des Gesprächs ist klar: Er wird nach dem Ende dieser Saison wohl viel öfter zu Hause sein. Als Trainer beim BTV Aarau soll er den neu geschaffenen Nationalen Nachwuchsverein (NNV) führen.
Die Bereitschaft, Profi zu werden, muss da sein
BTV-Präsident Giuseppe Longa erinnert sich an das Gespräch: «Als ich mich nach seiner Nummer erkundigte, dachte ich, dass die Erfolgschancen vielleicht bei zehn Prozent liegen. Ein ehemaliger Nationaltrainer für den Nachwuchs? Als wir auflegten, war die Chance auf ein Ja bereits höher als auf ein Nein.» Lippuner war schnell überzeugt. Kurze Zeit später wurde der Vertrag unterschrieben.
Mit den Nationalen Nachwuchsvereinen – neben dem BTV Aarau hat einzig der VBC Züri Unterland eine Lizenz erhalten – will der Verband Swiss Volley die Nachwuchsarbeit professionalisieren. Lippuner sagt: «Leistungssport ist nicht nur eine Frage des Talents, sondern vor allem eine Frage der Einstellung.» Es brauche Bereitschaft, Profi zu werden.
Aktuell spielen mit der Aargauerin Laura Künzler und Maja Storck zwei Schweizerinnen als Profis im Ausland. Lippuners Vision: «Irgendwann wollen wir zehn, vielleicht sogar 20 Profis haben. Dafür braucht es neben den neuen Strukturen vor allem eine Änderung im Denken. Wenn in Deutschland eine junge Spielerin sagt, sie wolle auf Volleyball setzen, lautet das Feedback: ‹schwierig aber mutig›. In der Schweiz sagen der eigene Trainer, der Vater, die Mutter und der Lehrer: ‹Spinnst du eigentlich!›»
Lippuner ist überzeugt, dass es in der Schweiz genügend Spielerinnen gäbe, die bereit wären, All-in zu gehen. «Doch es braucht jemanden, der sie berät, der ihnen den Weg zeigt und die Perspektiven.» Genau dort setzt das NNV-Projekt an. Neben einem professionellen Trainingsbetrieb mit acht bis neun Einheiten verteilt auf fünf Tage in der Woche und einem Spiel am Wochenende setzt der BTV Aarau auf eine seriöse Karriereplanung. «Es bringt nichts, wenn eine talentierte 17-Jährige von sämtlichen NLA-Teams gelockt wird, weil diese aufgrund der Auflagen zwei Schweizerinnen spielen lassen müssen.»
Lippuner nennt dieses Vorgehen einen «Ausverkauf von Talenten. Und weil der Horizont vieler Schweizer an der Grenze endet, ist der Weg schnell zu Ende.» Die NLA sei für die meisten das Höchste der Gefühle, etwas, das sich mit dem Berufsleben vereinen lasse. Profi zu sein, sei nicht einmal eine Option. «Das müssen wir ändern. Volleyball auf höchstem Niveau findet heute zwischen 24 und 32 Jahren statt. Da muss man mit 17 nicht am Zenit sein.»
Nicht Sport trotz Schule, sondern umgekehrt
In Aarau trifft Lippuner auf Menschen, die gleiche Ziele verfolgen. Auf Präsident Longa, der den BTV zum grössten und besten Ausbildungsverein der Schweiz machen will. Auf den Sportlichen Leiter Harald Gloor, der massgeblich daran beteiligt war, die NNV-Lizenz nach Aarau zu holen. Er sagt: «Bisher stand die Schule im Zentrum und der Sport konnte irgendwie daneben stattfinden. Künftig setzen die Talente bei uns auf Sport und absolvieren nebenbei eine sehr gute Ausbildung.»
Im August beginnen die ersten Spielerinnen, die parallel dazu das Sportgymnasium an der Alten Kantonsschule in Aarau besuchen oder eine Lehre in einem spitzensportfreundlichen Betrieb absolvieren werden. Die 16- bis zirka 20-jährigen Talente mit der Motivation, Profi zu werden, nehmen zudem als BTV Aarau am Spielbetrieb in der 1. Liga teil. Das Team kann vorläufig weder auf- noch absteigen und hat keinen Einfluss auf jene Equipe, die derzeit in der NLB spielt. Gloor, der das NLB-Team als Trainer betreut und sein Amt danach an Anika Schulz weitergibt, sagt: «Mir ist es wichtig, dass bei uns neben der Profiförderung auch alles andere möglich bleibt.»
Auch das Aussortieren gehört zum Modell dazu
Das nicht ohne Grund. Lippuner erwartet, dass das Projekt schon bald die besten Spielerinnen der Schweiz anlockt. Das wiederum könnte dazu führen, dass der regionale Nachwuchs künftig schlechtere Möglichkeiten hat. BTV-Präsident Longa sagt: «Wir wollen und werden den Breitensport bestimmt nicht vernachlässigen. Der Nationale Nachwuchsverein soll vielmehr ein Supplement sein. Und wenn die eigenen Talente gut genug sind, werden sie im NNV-Projekt einen Platz bekommen.»
Davon ist auch Lippuner überzeugt. Er sagt: «Es geht darum, dass sich die Spielerinnen früh entscheiden. Wenn eine nicht bereit ist, sich für den Profiweg zu motivieren, ist das okay.» Doch der Solothurner ist sich bewusst, dass das Modell trotzdem dazu führen wird, dass er aussortieren muss. «Das Risiko, dass man rausfliegt, ist da. Aber das ist auf der ganzen Welt so.»
Geschenke werden keine verteilt. Auch wenn diese Geschichte kurz vor Weihnachten begann.