Wenig Erkältungen, kaum Grippe – doch wie lange noch?

Früher waren gewöhnliche Erkältungen kaum der Rede wert. Doch nun machen sie uns temporär zu unerwünschten Subjekten, welche die Gesellschaft meiden müssen. Selbst mit negativem Corona-Testresultat dürfen wir uns beim leichtesten Husten nicht mehr unter die Leute wagen – die epidemiologische Harmlosigkeit steht uns ja nicht ins Gesicht geschrieben.

Es gibt also gute Gründe, jedes Kratzen im Hals rasch und unerbittlich zu bekämpfen. Doch ist deswegen der Absatz an Erkältungsmitteln in die Höhe geschnellt? Nein, im Gegenteil. «Die Verkäufe von Produkten gegen Erkältung gingen zurück», heisst es beispielsweise bei Galenica, dem Betreiber der Apothekenketten Amavita und Sun Store. Auch bei Coop Vitality verspürt man aktuell einen «leichten Rückgang» der Nachfrage nach diesen Produkten.

Für Erkältungen kommen mehr als 200 verschiedene Erreger infrage

Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Vermutlich sind im Moment weniger Menschen erkältet als üblicherweise in dieser Jahreszeit. Und dies dank der Coronapandemie. Denn auch die über 200 Erreger, die gewöhnliche Erkältungen aus­lösen können, verbreiten sich hauptsächlich über Tröpfchen, die beim Husten, Niesen oder Sprechen versprüht werden, oder als Schmierinfektionen über die Hände. Mit den Massnahmen gegen Covid-19 bekämpfen wir auch Erkältungen.

Dieser Effekt zeigte sich im vergangenen australischen Winter am Respiratorischen-Synzytial-Virus (RS-Virus), wie ein Forschungsteam nachweisen konnte. Diese weltweit verbreiteten Viren sind die häufigste Ursache für Infektionen der unteren Atemwege bei Säuglingen. In Australien steigen die Infektionszahlen normalerweise in der ersten Jahreshälfte an bis zu einem Peak Mitte Jahr (also im australischen Winter). Doch diesmal wurde wochenlang kein einziger Fall gemeldet. Von März bis August gab es gerade zehn Fälle – in den acht vorderen Jahren waren es jeweils mehr als 500 gewesen. Das entspricht einem Rückgang um 98 Prozent – und dies, obwohl sogar häufiger auf RS-Viren getestet wurde als in früheren Jahren.

In Sydney kamen die Viren erst nach dem Winter

Unklar ist, wie lange dieser Effekt anhält. Es könnte zu einem verspäteten Anstieg der Infektionen kommen oder das Virus könnte sich in der kommenden Saison umso stärker verbreiten, weil viele Kinder noch nicht mit ihm in Kontakt gekommen sind, mutmasst das Forschungsteam. Eine verspätete RS-Virus-Welle gab es bereits im Oktober in New South Wales, dem Bundesstaat um Sydney, wie das Fachmagazin «Nature» berichtet.

Bei den Rhinoviren, den häufigsten Erkältungserregern, zeigte sich im Vereinigten Königreich ein ähnliches Muster: Mit dem Lockdown gingen die Fälle rapid zurück, doch nach den Sommerferien stieg die Infektionskurve steil an.

Mit der Grippeimpfung könnte es nächstes Jahr schwierig werden

Ein Spezialfall ist die echte Grippe. Auf der Südhalbkugel blieb dieses Jahr die Grippewelle aus, und in der Schweiz meldet das Bundesamt für Gesundheit für die Woche vom 19. bis 25. Dezember keinen einzigen Fall. Nebst den Coronamassnahmen könnte hier ein weiterer Faktor mitspielen: Es liessen sich deutlich mehr Menschen impfen als in früheren Jahren.

Doch auch dieser Effekt hält nicht ewig an. Gerade weil kaum Grippeviren zirkulieren, könnte es besonders schwierig werden, die Entwicklung des Virus vorherzusagen und einen wirksamen Impfstoff für die Saison 2021/2022 zu entwickeln.