
Wenn im Bus die Hochsprache Pflicht wird
Im Mai 2014 haben die Aargauerinnen und Aargauer die Initiative «Ja für Mundart im Kindergarten» mit 55,5 Prozent der Stimmen angenommen. Damit ist im Kindergarten Dialekt Unterrichtssprache. Wer als Lehrperson nicht über diese Fachkompetenz verfügte (aus Deutschland stammend) wurde entlassen. Was es gebracht hat? In einer Ostaargauer Gemeinde durfte letzte Woche der Samichlaus nicht so sprechen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, musste sich der «Hochsprache» bedienen. Grund dafür ist der hohe Ausländeranteil im Kindergarten.
Dialekt wird von «Gvätterlischülern» mit Migrationshintergrund nicht verstanden. Aber auch bei der Schriftsprache hapert es so sehr, dass nun Bestrebungen im Gang sind, solche Kinder in der Schule vom Französisch- und Englischunterricht zu dispensieren, damit sie sich auf die deutsche Sprache konzentrieren können. Apropos: Wie die letzte Pisa-Studie aufgezeigt hat, haben Schweizerkinder vermehrt ein Problem mit der Schriftsprache. Sie kommunizieren per Facebook und SMS in Sätzen, die aus englischen Brocken und aus einer schwer definierbaren, minimalisierten Mundart zusammengesetzt sind.
Mundart im Kindergarten, dafür aber die Hochsprache im öffentlichen Bus. Kein Scherz: Seit dem Fahrplanwechsel sind die Chauffeusen und Chauffeure der Regionalen Verkehrsbetriebe Baden-Wettingen (RVBW) verpflichtet, ihre Durchsagen auf Hochdeutsch zu machen – Schluss mit «Schwümmbad» und «Schuelhuusplatz». Aber: Honi soit qui mal y pense – nicht auf Migranten und die zahlreichen bei ABB, GE und Co. beschäftigten Expats wird Rücksicht genommen, sondern auf Hörbehinderte.
Die RVBW folgen einer Verordnung des eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek). Darin ist festgehalten, dass Durchsagen auch für Hörbehinderte gut verständlich sein müssen. Ist Mundart dies nicht? «Schweizerdeutsch ist die Sprache, mit der sich die Menschen hier unterhalten, die sie am meisten brauchen», sagt der Wettinger EVP-Einwohnerrat und Pfarrer Lutz Fischer. Er und einige Mitstreiter fordern die RVBW per Petition auf, zurück zum Dialekt zu wechseln. Schützenhilfe erhält Pfarrer Fischer von der Behindertenorganisation Pro Audit: «Wichtiger als Hochdeutsch ist für uns die Qualität der Durchsagen und Anzeigetafeln.» Hörbehinderte Menschen seien darauf angewiesen, dass die Haltestellen gut sichtbar auf Displays angezeigt werden.
Aber Hand aufs Herz: Wie gut sprechen Sie und ich Dialekt, respektive haben wir einen originären? Zofingen ist nicht Aarau. «Nicht» ist in Zofingen: es got ned, heute: höt, Fenster: Feischter, gestern: geschter, Abend: Obe, Gehorchen: Fouge, Jeweils: jewils und Holzsplitter: Houzschpletter. Das sind Worte aus dem Dialekt der Stadt.
Die Übergänge zwischen Dörfern und insbesondere Talschaften sind fliessend, die Nuancen für geübte Ohren unüberhörbar. Ein Zofinger wäre entrüstet, würde man seinen Dialekt in denselben Topf mit jenem eines «Choomer» (Kulmer) werfen oder gar mit dem Aarauer Dialekt. Der ist «berüchtigt» für sein spitziges «Au». Für die Dialekte im ganzen Kanton wird klar, dass er eine Reissbrettkonstruktion Napoleons ist, zusammengefügt wurde, was nicht zusammengehört hat. Chrotepösche, Säustöck und -blume, Sunnewirbel, Chlettärä, Tüüchel- und Eiertätsch, Weifäcke – der Löwenzahn im Aargau.
Im Berner Aargau spürt man die Verwandtschaft mit dem «Bärndütsch», der Fricktaler hat sprachlich einiges gemeinsam mit dem Baselbieter. Im Limmattal sind starke Annäherungen an «Züridütsch» zu erkennen. Unterschiede sind angesichts der massiven Zuwanderung aus dem östlichen Nachbarkanton abgeschliffen. Beispielsweise sagt ein Badener der Farbe Gelb nicht gääl, sondern geel. Und ein Badener ist ein Bademer, was das dortige Tagblatt nie respektiert hat.
Was ist Mundart? Schweizerdeutsch gibt es definitiv nicht. Das omnipräsente «Züri»-Deutsch ist nicht meine Muttersprache. Sie ist Teil unserer Identität, unserer Kindheit. Realität aber ist, dass heute in vielen Kindergärten die Hälfte der Mädchen und Knaben eine Mutter haben, welche weder unsere «Standardsprache», geschweige denn Dialekt vermitteln kann; die nur einzelne deutsche Wörter versteht.
Je besser die Verkehrsverbindungen in Richtung Zürich, desto mehr nimmt ein Sprachgut überhand, das an die Schriftsprache anlehnt. Hinzu kommt das «Hey Man»-Stakkato in den «sozialen» Medien und in der Umgangssprache auf dem Schulhof. Unsere lokalen Muttersprachen befinden sich im Zeitalter des SMS in einer Epoche der Auflösung ihrer Normen.
Dennoch und auch wenn beim Grossverteiler die Rüebli als Karotten angeschrieben sind, kaum mehr jemand ein Mödeli Anke oder Nidle kauft und das Anke-Gipfeli zum Butter-Hörnchen mutiert: Die Mundart lebt und wird von Radio SRF I vorbildlich gepflegt.