
Wenn sie zuhause in Pfaffnau trainiert, dann «chlöpft» es
Daheim trainieren liegt im Trend. App-gesteuerte Workouts oder Fitnesseinheiten via Zoom boomen. Wenn Nicole Häusler in ihrer Wohnung trainiert, «chlöpft» es. Die Rollstuhlschützin hat sich in Pfaffnau zwischen Küche, Korridor und Stube ein Art Schiessstand eingerichtet. Dieser beginnt gleich bei der Haustür. Von dort zielt die 41-Jährige mit dem Luftgewehr auf die elektronische Polycarbonat-Scheibe, die acht Meter entfernt über dem Sofa hängt. «Ich hoffe, die Angestellten in den Büros über mir bekommen keinen Schreck, wenn sie die Geräusche hören», sagt sie. Die Scheibe ist mit Sensoren ausgestattet, sendet ein eigenes WLAN-Signal und verbindet sich mit einem Tablet. «Die digitale Scheibenanzeige wird optisch verkleinert, damit das Auge sie so erkennt, als sei sie wie im echten Schützenhaus 10 Meter entfernt», erklärt Nicole Häusler, während ihr Trainer Walter Berger ein Diabolo – eine Luftgewehrkugel – ins Gewehr steckt. Die Radiologiefachfrau, die mit Multipler Sklerose lebt, hat seit einem Krankheitsschub eine Dysfunktion im rechten Arm. Sie braucht Hilfe beim Einstellen und Laden des Gewehrs.
So auch an jenem Abend, als sie ein Wettkampfprogramm als Training schiesst. Als Nationalkadermitglied hätte die mehrfache Schweizer Meisterin Zutritt zu den Schützenhäusern. «Aber durch das Hometraining spare ich Reisezeit, Energie und minimiere das Risiko, mich unterwegs oder vor Ort mit Covid-19 zu infizieren.»
Fordernde Temperatur und Lichtverhältnisse
60 Schüsse gilt es innerhalb von 75 Minuten abzugeben. Zuvor gewährt das Tool – wie im echten Wettbewerb – 15 Minuten Probeschiessen. Noch bevor dieses zu Ende ist, muss Walter Berger in der Küche das Schrägfenster öffnen. «In den 10-Meter-Schiessanlagen ist es zwischen 15 und 19 Grad kühl, bei mir daheim staut sich die Hitze bei der Türe», sagt Nicole Häusler. Vielleicht sei dies die beste «klimatische» Vorbereitung auf die Paralympics in Tokio diesen August, auf welche die Luzernerin hinarbeitet. Speziell sind zuhause auch die Lichtverhältnisse. Schattenwurf und Deckenspots im Flur fordern Nicole Häuslers ohnehin beeinträchtigten Sehnerven zusätzlich.
Die Zielscheibe ist in einen Kugelfang aus Kunststoff gepackt. Auch wenn es ab und zu so tönt, als ob ein Diabolo wegspickt, landen alle in der Anlage. «Ich habe noch nie eines neben dem Sofa gefunden», sagt Nicole Häusler. Jeden Treffer können sie und Walter Berger auf dem Tablett in Echtzeit analysieren. Der Coach lobt: «Ein wunderbarer Start, so solltest du immer beginnen.» Auf Anweisung der Schützin nimmt er Feinjustierungen an der Optik vor. Nach dem 41. Schuss reicht Berger der Athletin Wasser und sie bittet ihn, bockstill zu stehen, wenn sie zielt. «Wenn du dich bewegst, ändert sich das Licht.»

Ihre Kommunikation zeugt von Vertrauen und Respekt. Seit 2018 bilden sie ein Duo. Als 2017 die Anfrage an den Pistolen-Nationaltrainer kam, ob er zusätzlich mit Nicole Häusler arbeiten möchte, sagte Walter Berger zu. «Aus jugendlichem Leichtsinn», scherzt der 73-Jährige, «und weil ich es spannend fand, mich vertiefter mit Luftgewehr und Kleinkaliber auseinanderzusetzen und mit den Besonderheiten, mit denen Nicole wegen der MS schiesst.» So ist etwa das Abdrücken ein automatisierter Vorgang. Häusler spürt oberflächlich nichts im linken Zeigefinger. «Der Abzug ist so hart eingestellt wie wohl bei niemandem sonst», erklärt Berger, damit der Schuss wirklich erst gehe, wenn der Kopf dem Finger «Druck erhöhen» befehle. «Selbst als langjähriger Schütze kann ich mir nur schwer vorstellen, wie das funktioniert, wie Nicole das im Griff hat.»
Ein gutes Resultat und gemischte Gefühle
Der Pensionär scheut seit 2018 weder Anfahrtswege zum Training, noch Reisen an internationale Wettkämpfe, um Nicole Häusler als Coach und «Lader» zu unterstützen. «Wir verstehen uns fast ohne Worte», sagt die Schützin, die im Wettkampf Anweisungen geben, aber keine verbalen von «Wale» erhalten darf. Umso mehr schwatzen die beiden beim Abendessen nach dem Training, das sie auch zu Corona-Zeiten zusammen geniessen. «Wir achten genau, welche Begegnungen wir im Alltag haben und halten uns an alle Schutzmassnahmen», bekräftigen sie. Mit neuem MS-Medikament unterwegs, zählt Häusler mit heruntergefahrenem Immunsystem zur Risikogruppe.
Während die Schützin nach getaner Arbeit die Schiessjacke auszieht und sich vom Sport- in den Alltagsrollstuhl hievt, wischt der Trainer den feinen Staub, den die Schüsse auf der Scheibe hinterlassen, mit einem Haushaltpapier weg. Die Schublade mit den gebrauchten Diabolos leert er in den Müll und prüft das Resultat. «631.2 Punkte. Damit bist du voll dabei in der Weltelite, Nicole.» Sie grinst und hofft, dies bald vor Ort an einem Wettkampf zeigen zu können. Die Absage der Europameisterschaft in Finnland kam vor einer Woche, wenige Stunden nach der Bestätigung, dass die Pfaffnauerin selektioniert sei. Den Paralympics blickt sie mit mit Vorfreude entgegen, weil sie das Höchste seien, was man als Athletin erreichen kann. Aber da ist auch Skepsis: «Ich bin nicht sicher, ob sie wirklich stattfinden können.»
