Wer gab den Auftrag, den Kriminaljournalisten Peter de Vries zu töten?

Dienstagabend, gegen 19.30 Uhr im Zentrum von Amsterdam. Der bekannte Kriminaljournalist Peter de Vries verlässt das Studio des TV-Senders RTL, wo er kurz zuvor an einer Fernsehdiskussion teilgenommen hat. Auf dem Weg zum Parkhaus wird er von Unbekannten mit mehreren Schüssen aus nächster Nähe niedergestreckt.

Mindestens einer trifft ihn am Kopf. Bilder und Videos in den Sozialen Medien zeigen, wie de Vries schwerverletzt am Boden liegt. Als die Rettungskräfte eintreffen, ist der Zustand des 64-Jährigen kritisch. «Er kämpft um sein Leben», sagt die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema bei einer Pressekonferenz am Dienstagabend.

Das Spital, wo der Journalist untergerbracht ist, wird von schwerbewaffneten Polizisten bewacht.

Polizisten sichern den Ort des Anschlags.

Polizisten sichern den Ort des Anschlags.

Keystone

Besteht Zusammenhang mit Prozess gegen Mafia-Boss?

Die niederländische Öffentlichkeit reagiert erschüttert auf das Attentat. Das Königspaar, derzeit auf Staatsbesuch in Deutschland, zeigt sich «tief geschockt». Mark Rutte spricht von einem «Anschlag auf den freien Journalismus».

De Vries gilt in den Niederlanden als der führende Reporter im Bereich Kriminalität und organisiertem Verbrechen. Grössere Bekanntheit erlangte er 1983 mit Berichten und Recherchen über die Entführung des Bierkönigs Freddy Heineken. Heute tritt er regelmässig in Talkshows auf und betätigt sich als Sprecher von Opfern oder Zeugen bei Gerichtsprozessen.

So auch im aktuell laufenden Prozess gegen Ridouan Taghi, dem Kopf einer international tätigen Verbrecherbande. De Vries vertritt im sogenannten «Marengo-Prozess» den Kronzeugen Nabil B. in der Öffentlichkeit. Bereits im Jahr 2019 wurde der Anwalt von Nabil B. wie auch sein Bruder erschossen. Ob der Anschlag auf de Vries im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren steht, ist derzeit noch unklar.

Die niederländische Polizei konnte noch am Dienstagabend zwei Verdächtige festnehmen, darunter auch den mutmasslichen Schützen. Ministerpräsident Rutte und Justizminister Ferd Grapperhaus kamen mit der Anti-Terrorismus-Behörde zusammen. Eine Sonderkommission wurde eingesetzt. Bei Hausdurchsuchungen in mehreren Städten wurde unter anderem Munition sichergestellt.

In den Niederlande wuchert das organisierte Verbrechen

In den Niederlanden toben schon seit längerem gewalttätige Auseinandersetzungen im Drogen-Milieu. Es geht um Einfluss und Revierkämpfe verschiedener Banden längst nicht nur in den Metropolen Rotterdam und Amsterdam, die mit ihren Hochseehäfen als Einfallstor für den Kokainschmuggel aus Lateinamerika dienen. Schusswechsel und Attentate auf offener Strasse, bei denen auch Handgranaten eingesetzt werden, häufen sich.

Im vergangenen Juni wurde in der südlichen Niederlande nahe Rotterdam eine regelrechte Folterkammer ausgehoben und die Durchführung von Mordplänen in letzter Minute verhindert.

Kein Gangster-Film: Auf diesem Folterstuhl wollten Kriminelle ihre Konkurrenten «behandeln».

Kein Gangster-Film: Auf diesem Folterstuhl wollten Kriminelle ihre Konkurrenten «behandeln».

Screenshot Video Politie Landelijke Eenheid

Im Zentrum der niederländischen Verbrecherszene steht Riduoan Taghi. Der gebürtige Marokkaner galt lange als der meistgesuchte Kriminelle in den Niederlanden, bevor er 2019 in Dubai verhaftet wurde. Seine «Karriere» soll der heute 43-Jährige als Haschisch-Schmuggler gestartet haben, bevor er ins grosse Kokain-Geschäft einstieg und zum Drogen-Multimillionär avancierte.

Taghi soll besonders skrupellos vorgehen und seine Konkurrenten ohne zu zögern verschwinden lassen. Er ist angeklagt, mindestens sechs Morde in Auftrag gegeben zu haben. In zahlreichen anderen Fällen wird noch ermittelt.

Taghi soll auch Journalisten wie de Vries ins Visier nehmen, die über seine Taten berichten. 2016 wurde der ehemaliger Kriminelle Martin Kok, der einen News-Blog unterhielt und über Taghi schrieb, unter ungeklärten Umständen erschossen. Gemutmasst wird auch, dass Taghi hinter zwei Anschlägen auf Medienhäuser steckt: Im Juni 2018 raste ein Lieferwagen in das Redaktionsgebäude der Zeitung «De Telegraaf» und wurde anschliessend in Brand gesetzt. Tage zuvor beschoss jemand die Redaktion der Zeitschrift «Panorama» mit einer Panzerfaust. In Zeitungskommentaren wird zuweilen die Befürchtung geäussert, die Niederlande, die mit ihrer liberalen Drogenpolitik einst Vorbild in Europa waren, befinde sich auf dem Weg zu einem «Narco-Staat» zu werden.

Der Anschlag auf das Redaktionsgebäudes der Zeitung «de Telegraaf» im Jahr 2018 richtete hohen Sachschaden an.

Der Anschlag auf das Redaktionsgebäudes der Zeitung «de Telegraaf» im Jahr 2018 richtete hohen Sachschaden an.

Keystone

Unruhe in die niederländische Unterwelt brachte zuletzt die Entschlüsselung eines Systems für Krypto-Handys, einer Art «WhatsApp für Verbrecher». Über Monate konnten die Behörden mehrerer Länder abertausende Nachrichten mitlesen. Durch international koordinierte Aktionen konnten Dutzende Tonnen von Kokain beschlagnahmt und zahlreiche Verdächtige verhaftet werden.