Widerspruch ist kein Geschäftsmodell: Meinungspluralismus ist ein hohes Gut

Es gibt ein grosses Missverständnis, was die Nutzung von Medien betrifft. Falsch ist die Ansicht, es sei die schiere Neugierde auf das Neue, Unbekannte und Überraschende, das die Menschen zu Zeitungslesern, Fernsehnutzern oder Internetsurfern macht. Vielmehr ist das Bedürfnis massgeblich, dass der Medienkonsum uns in unseren Ansichten bestätigt und bestärkt. Mit neuen Informationen können wir umgehen und sind auf sie angewiesen, sofern sie helfen, unseren Radar auf die Welt stets neu zu justieren. Neue Informationen, die unser Weltbild in Frage stellen, verstören jedoch bloss. Sie zu meiden, fällt uns leichter, als dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen.

Der Entwurf eines trieb- und gefühlsgesteuerten Medienkonsumenten entspricht selbstverständlich nicht dem Bild des mündigen Bürgers, der unvoreingenommen in seinem Leibblatt möglichst viele Meinungen aufnimmt, um daraus eine eigene Meinung zu destillieren. Dabei ist Meinungspluralismus unbestritten ein hohes Gut, eine Vorbedingung etwa für einen demokratischen Diskurs. Und an einer Vielzahl konkurrierender Meinungen und Ansichten mangelt es derzeit auch nicht. Doch diesen in einem Medium als Binnenpluralismus zu kultivieren, war nie leicht und wird wieder schwieriger.

Was üblicherweise redaktionsintern ausgefochten wird, ist nun am Beispiel der «New York Times» auf die Weltbühne der Öffentlichkeit geraten. Eine Kolumnistin hat unter Protest das Blatt verlassen, weil sie sich mit ihrer konservativeren Meinung von einer Mehrheit der linksliberalen Redaktoren ausgegrenzt sieht. Die Meinungsäusserungsfreiheit sei damit in Gefahr, lautet der weitverbreitete Tenor auf den Vorgang. Als «Cancel Culture» wird das Phänomen bezeichnet, wenn missliebigen Ansichten die moralische und im Anschluss daran die finanzielle Unterstützung entzogen wird.

Zur Einordnung lohnt sich ein Blick zurück: Die Publizistik war die längste Zeit ihres Bestehens eine parteiliche. Jede politische Richtung hatte ihr Organ, mit dem sie ihre Klientel bediente. Die Vielfalt der verbreiteten Meinungen war gross, Binnenpluralismus war aber weder existent noch erwartet. Die Idee eines unabhängigen Journalismus entwickelte sich erst mit der Ökonomisierung der Medien. Dank der lukrativen Werbefinanzierung konnte sich der Journalismus vom Politsystem emanzipieren. Es entstanden Forumsmedien; unparteiische Plattformen, auf denen alle möglichen Ansichten aufschienen. Doch zum einen waren der Bandbreite der veröffentlichten Meinungen auch in Forumsmedien stets Grenzen gesetzt. Zum anderen funktioniert das Geschäft des werbe­finanzierten Journalismus kaum mehr. Die Folge ist die Rückbesinnung auf eine imaginierte Community, verbunden mit einer Repolitisierung und -moralisierung des Journalismus.

Die Geschichte der «Weltwoche» widerspiegelt diese Entwicklung. In den frühen 90er-Jahren war es die Linie der Wochenzeitung, keine Linie zu haben. Heute hat die «Weltwoche» ihren festen Kurs und das dazugehörige Publikum. Die «Republik» wiederum hat von Anfang an nicht auf Binnenpluralismus gesetzt und dafür ihre Leser zu «Verlegern» gemacht. Diese haben entsprechend aufgemuckt, als die Redaktion des Onlinemagazin es wagte, abweichende Positionen zu prominent zu publizieren.

Widersprüchliches ist kein Geschäftsmodell, wenn es gilt, das Publikum bei seinen Bedürfnissen zu packen. Selbst die Social-Media-Kanäle, die wesentlich das System Journalismus destabilisiert haben, gehen dazu über, die Meinungsäusserungsfreiheit zu beschneiden. Twitter und Facebook sehen sich genötigt, die gröbsten Falschaussagen von Donald Trump zu korrigieren. Nur sein Amt als US-Präsident bewahrt ihn davor, was anderen geschäftsschädigenden Nutzern passiert: ein «Deplatforming», die Liquidation ihres Profils. Dies ist zwar nicht wünschenswert, folgt aber der Logik der Zeit.