
Wie gut sind die Lüftungen grosser Eventsäle? Zwei Schweizer Experten haben den Check gemacht
Sie sind mit blauem Samtpolster bezogen. Exakt 1892 Sitze stehen im berühmten Konzertsaal des KKL Luzern. Dicht an dicht, Reihe hinter Reihe. Viele der Konzerte im KKL der letzten Wochen waren ausverkauft. Das hiess gemäss Corona-Vorschrift bislang, dass 950 Sitze besetzt waren. Ab Donnerstag dürfen es über 1000 sei. Benoit Sicre und die Journalistin denken in diesem Moment dasselbe: Das sind viele Leute, eng aufeinander.
«Man muss die Musik schon sehr mögen», sagt Sicre. Er ist Experte für Innenraumlufthygiene und Lüftungstechnik an der Hochschule Luzern. Er soll für uns die Frage beantworten: Kann man hier sicher Musik geniessen in Zeiten von Corona?
Wenig Ausbreitung: Der Nebel steigt durch die Lüftungsschlitze entlang eines Sitzes über dem Kopf des Zuhörers im KKL hoch.
© Pius Amrein (Luzern, 10. September 2020
Lüftungsschlitze befinden sich in jedem einzelnen Stuhl seitlich. Daraus strömt die Luft so langsam, dass es mit der Hand nicht fühlbar ist. © Pius Amrein (Luzern, 10. September 2020
Die Lüftung ist ultraleise – aber was passiert mit Viren?
Die Lüftung im KKL ist hochklassig, aber da wir in einem Raum für klassische Musik stehen und nicht in einem Operationssaal, heisst das primär: Sie muss leise sein. Unhörbar leise. Die Aussenluft wird im 5. Stock auf der einen Seite angesogen, durch einen grossen Schacht im Keller unter den Konzertsaal geführt, strömt dann durch den Saal Richtung Decke und wird auf dem Dach abgeführt, auf der anderen Seite des Gebäudes.
Doch was passiert im Saal? Bildet sich auf Kopfhöhe ein Nebel? Verwirbelt die Luft zwischen den Zuhörern? Fliesst die Bühnenluft von maskenlosen Musikern in den Zuschauerraum? Sensoren messen im KKL zwar die Luftfeuchtigkeit und die CO2-Konzentration und halten beides konstant, doch wo wirbeln allfällige Viren durch?
Das Laser-Licht geht an und zeigt eine steile Nebelfahne, und dies, obwohl der Saal leer ist, das heisst, obwohl keine Menschen mit ihrer Körperwärme die Luft nach oben treiben.
Benoit Sicre ist zufrieden. Ja, hier würde er ein Konzert besuchen gehen. Mit Maske natürlich, die ist ohnehin obligatorisch. Würde er den Konzertbesuch sogar Risiko-Personen empfehlen? Er zögert.
Fach-Kollege Michael Riediker, vom Schweizerischen Zentrum für Arbeits- und Umweltorganisation SCOEH in Winterthur kennt diese Abwägungen. Er hat im Auftrag des Schauspielhauses Zürich die dortigen Räume auf Infektionsgefahr hin untersucht. Wie im KKL und wie übrigens auch in der Zürcher Tonhalle hat der «Pfauen» des Schauspielhauses eine Quelllüftung aus dem Boden.
Mit Hilfe von Theaternebel hat Riediker kurz vor der Saisoneröffnung gesehen, dass auf der grossen Pfauenbühne eine riesige Luftwalze entsteht: Die Luft zieht nach oben, mitgerissen von der Hitze der Scheinwerfer, und fliesst den Bühnen-Wänden entlang wieder nach unten. Dann jedoch ist sie komplett vermischt mit dem grossen Luftvolumen des Bühnenraums. Die Virenkonzentration wäre hier sehr gering, selbst wenn die Schauspieler keine Masken tragen. Riediker sagt: «Die Verhältnisse auf der grossen Bühne sind fast wie draussen.»
Die Arbeit der Schauspielerinnen und Musiker wird noch sicherer, wenn die Schnelltests verfügbar sind, mit denen man innert einer Viertelstunde weiss, ob jemand das Coronavirus hat.
Dass Schauspieler und Musikerinnen meist keine Masken tragen und dazu auch noch laut sprechen, singen oder heftig in Instrumente blasen, ist virologisch eine Schreckvorstellung fürs Publikum. Aber im Pfauen nicht. «Die Bühnenluft mischt sich nur ganz minimal mit der Saalluft», sagt Riediker. Das hat er mit Versuchspersonen als wärmende Körper im Saal getestet. Aufgrund seiner Aerosolforschung weiss er ausserdem, dass bei einer so sanften Quell-Lüftung aus dem Boden nur im unmittelbaren Aerosol-Nahfeld, also in den Schwaden um eine Person herum, erhöhte Virenzahlen zu erwarten sind.
Die selbe Frage wie an Sicre sei also auch Riediker gestellt: Würde er die Säle Risikopersonen empfehlen? Man müsse abwägen, ob es nötig sei, sagt er. «Wenn Theater für die Person ein Lebenselixier ist und ohne Vorführungsbesuch die Lebensqualität sinkt, dann soll man gehen.»
Das Restrisiko bleibe natürlich. Zum Beispiel, wenn andere Besucher die Maske während der Aufführung abziehen. Um null Risiko geht es in Konzerthallen nicht. Aber um ein vertretbares. Und dieses hat Riediker mit vielen Variablen berechnet: Ob oder wie laut die Leute sprechen, wie stark sie körperlich aktiv sind, ob sie Masken tragen, wie stark die eingebaute Lüftung ist, wie viel Luftvolumen im Saal ist. Als einer der wenigen Experten in der Schweiz.
Solche Untersuchungen wurden bisher nur für Laborräume und Operationssäle gemacht. So begannen die meisten Kulturhäuser ihre Saison ohne zu wissen, wie die Luft sich in ihren Sälen mischt. Riediker stellt nun im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft, Seco, ein Tool her, das es anderen Experten erlauben wird, rasch die eigene Situation abzuklären.
In grossen Hallen ist die Aerosol-Konzentration noch geringer
Auch ohne Nebellanze ist für den Laien eines ersichtlich: das Luftvolumen. Es ist nebst der Lüftung der fast noch wichtigere Schutz. Die Atemluft eines Infizierten wird, wenn das Volumen genug gross ist, so sehr verdünnt, dass sich keiner anstecken kann, wenn man nicht gerade ohne Maske angespuckt wird. Das gilt auch für den «Schiffbau» in Zürich, die Theater-Industriehalle. «Dort gibt es gemäss meinen Berechnungen eine noch geringere Aerosol-Konzentration als in der belüfteten Pfauen-Bühne», sagt Riediker.
In anderen Eventhallen wie der Maag-Halle in Zürich dürfte dasselbe gelten: Der Raum erhält Frischluft, die über dem Dach angesogen und unten seitlich in die Halle geblasen wird. Die Luft strömt weniger perfekt entlang einer einzelnen Person von unten nach oben, doch das Luftvolumen ist so gross, dass ein Super-Spreader-Event laut Riediker fast unmöglich sein dürfte, wenn die Leute nicht ohne Maske herumschreien und tanzen.
Riediker hat aber durchaus Bühnen untersucht, die er nicht freigeben konnte. «Eine der Probebühnen im Schauspielhaus war eine Überraschung: Ausgerechnet auf 1,5 bis 2 Metern Höhe bildete sich ein Nebel.» Der Grund: Die Lüftung fand über die Türen statt. Die Lüftung wird nun umgebaut.
Zurück nach Luzern. Dort debattieren Lüftungsexperte Benoit Sicre von der Hochschule Luzern und Juerg Schaer, Leiter Gebäude und Sicherheit nun die Zahlen zu Kubikmeter Luft, Filterleistungen und Luftdruck. Schaer sagt: «Ich bin lieber im vollen Konzertsaal als in einem Grossraumbüro mit konventioneller Lüftung.» Alles 1 A, bestätigt Sicre. 30 Kubikmeter Luft pro Person und Stunde, F7-Filter, 50-70 Pascal Überdruck, und die Lüftung wird zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn eingeschaltet.
Kein Forschungsgeld für Übertragungswege in Räumen
Stararchitekt Jean Nouvel, der das KKL 1998 gebaut hat, hat vieles perfekt geplant: die Ästhetik, die Akustik, die Infrastruktur. Und eineine Lüftung, beziehungsweise Raumklima, das Instrumente mögen, war auch fürs Publikum perfekt. Bis jetzt ging es bei der Lüftung nicht um Viren.
Vielleicht erforscht Benoit Sicre dies bald. Er will ein Labor aufbauen und zusammen mit Mikrobiologen des Instituts für Medizintechnik der Hochschule Luzern Luftproben untersuchen, um passende Schutzmassnahmen zu bestimmen. Er hofft, vom Bund Forschungsgeld zu erhalten. Doch beim Bundesamt für Gesundheit heisst es, man habe keine Projekte zum Thema in Auftrag gegeben. Sicre sagt, da müsse ein Umdenken stattfinden, denn der Informationsbedarf sei riesig: «Wenn ich daran denke, wie viel Geld nun für die Impfstoffforschung aufgewendet wird, dann verstehe ich nicht, warum es keines für die Prävention, das heisst, für die Erforschung der Übertragungswege in Innenräumen gibt.»