Wieso in Tells Namen sollte ich nicht wählen können?

Ich war verstört, verstimmt, vor den Kopf gestossen und auch ein bisschen verwundert. Wie kommt mein Arbeitskollege dazu, mir diese Frage zu stellen – und dies noch in aller Ruhe?! «Melek, kannst du eigentlich wählen?», wollte er wissen. «Ich bin im Fall genauso Schweizer Bürgerin wie du Schweizer Bürger, also kann ich auch wählen», entgegnete ich ihm mit Nachdruck. Mein Kollege, ein Rassist?! Ich war verdutzt.

Ich bin hier in Zofingen auf die Welt gekommen, in Aarburg aufgewachsen, habe die obligatorische Schulzeit im Aarestädtchen absolviert und danach die Kantonsschule Zofingen besucht. Nach meinem Einbürgerungsgespräch wurde mir attestiert, dass ich sehr gut integriert, ja assimiliert sei. An der Gemeindeversammlung, an der der Souverän darüber entschieden hat, ob ich das Schweizer Bürgerrecht zugesprochen bekomme, durfte ich die Versammlung in der Mehrzweckanlage Paradiesli – neben mir sass der damalige Stadtpolizist – von der Tribüne aus mitverfolgen. Bei der Abstimmung musste ich die Halle verlassen, wurde dann aber mit Applaus wieder empfangen. Strahlend bin ich an diesem Abend nach Hause, im Wissen, dass die Schweiz nicht nur in meinem Herzen als meine Heimat ihren Platz hat, sondern künftig auch offiziell als meine Heimat in meinen Dokumenten aufscheinen wird. Wieso in Tells Namen sollte ich also nicht wählen können? 

«So habe ich das denk nicht gemeint», meinte mein Kollege dann. «Hä?!», dachte ich mir. «Aha? Wie dann? Dachtest du, ich sei zu dumm dafür?», antwortete ich ihm bestimmt. Er musste lachen. Das wiederum goss nur noch mehr Öl ins Feuer. Mein Gesichtsausdruck wurde zusehends düsterer. «Nein», sagte er grinsend. «Ja, was dann?», wurde ich etwas lauter. «Meinst du, ich könne nicht wählen, weil ich eine Frau bin und aus deiner Sicht die falschen Kandidaten wählen würde ohne die Unterstützung eines Mannes?», sagte ich ihm langsam, aber sicher aufgebracht. Schliesslich bin ich eine Frau, die im Leben steht und sehr wohl kompetent Entscheidungen treffen kann, ohne dass sie einen Mann fragen muss.

Mein Kollege, kein Rassist, aber dafür ein Sexist? Oder ein Chauvinist? Meine Empörung wuchs weiter. «Das hätte ich also nie von dir gedacht», sagte ich ihm. Er musste wieder lauthals lachen, ein anderer Kollege stimmte nun mit ein in sein Lachen. «Nicht lustig!», fand ich. «Dann erklär mir bitte jetzt einmal, wieso ich nicht wählen können soll!», forderte ich ihn auf. Er meinte dann: «Meine Frage bezog sich auf die Aargauer Grossratswahlen», sagte er und fuhr fort: «Da ich nicht im Aargau wohne, kann ich hier auch nicht wählen. Deshalb meine Frage: Kannst du eigentlich wählen?»

Meine Kollegen lachten weiter – auch ich lächelte nun wieder, wenn auch etwas beschämt, meinem lieben Kollegen so etwas unterstellt zu haben.