Zehn Jahre Minarett-Verbot: Die Gegner lagen mit ihren Warnungen turmhoch daneben

Die arabischen Touristen machen einen Bogen um unser Land. Der Aussenhandel mit muslimischen Ländern schrumpft. Die Schweiz wird Zielscheibe von Terroristen und befeuert antiwestliche Propaganda. Oder sie gefährdet den religiösen Frieden. Die Gegner kämpften vor allem mit den oben genannten Befürchtungen für ein Nein zum Minarett-Verbot. Dennoch entschied das Volk am 29. November 2009 mit 57,5-Prozent Ja-Stimmen, dass es hierzulande bei vier mit Minaretten ausgestatteten Moscheen bleibt.

Für das Egerkinger-Komitee um die SVP-Nationalräte Walter Wobmann (SO) und Ulrich Schlüer (ZH) symbolisierte das Minarett den religiös-politischen Machtanspruch des Islams. Mit dem Ja zum Verbot landeten die Initianten eine Politsensation, die niemand vorausgesehen hatte. Bei der letzten Umfrage des Forschungsinstituts gfs.bern lag die Zustimmung bloss bei 37 Prozent. Die Meinungsforscher sind jedoch bei weitem nicht die einzigen, die rund um die Minarettdebatte turmhoch daneben lagen. Das zeigt ein Realitätscheck zu den erwähnten Befürchtungen zehn Jahre nach der Annahme der Initiative.

Annahme 1: Die arabischen Touristen meiden die Schweiz.
 

Ein Ja zur Initiative, schrieb der Bundesrat in der Botschaft, könnte sich negativ auf den Tourismus und den Aussenhandel auswirken. Er warnte, muslimische Konsumenten könnten Schweizer Produkte generell meiden – analog zum Boykott dänischer Produkte wegen des Karikaturenstreits. Guglielmo L. Brentel, damals Präsident von Hotelleriesuisse mahnte, die Tourismusbranche bekäme einen Imageverlust «wohl am härtesten zu spüren». Die diskriminierende und verletzende Initiative sende ein negatives Signal an die arabischen Gäste.

Realitätscheck 1: Mehr Besucher aus den Golfstaaten

Die Anzahl der Logiernächte aus den Golfstaaten stieg 2010, im Jahr eins nach dem Minarett-Verbot, um 13 Prozent auf 423 590. Im letzten Jahr kletterte dieser Wert auf fast eine Million. «Das Medienecho zur Abstimmung war in allen Golfstaaten bescheiden und hatte keine grosse Auswirkungen auf die Entwicklung der Logiernächte», sagt André Aschwanden, Mediensprecher von Schweiz Tourismus. Das Ferienland Schweiz geniesse besonders im Sommer grosse Beliebtheit zur «Flucht» vor den lokalen hohen Wüstentemperaturen. Fazit: Das Minarett-Verbot vergraulte die arabischen Touristen nicht. Aschwanden betont aber, jegliche Debatten zu diesen und ähnlichen Themen in der Schweiz seien in den Golfstaaten sichtbar und nicht förderlich für das Image der Schweiz, auch als Reiseland.

Annahme 2: Der Aussenhandel mit muslimischen Ländern schrumpft

«Dass ein Minarett-Verbot der Schweizer Wirtschaft schaden würde, ist klar», wusste Gerold Bührer. Der damalige Economiesuisse-Präsident ergänzte an einer Medienzkonferenz: «Schweizer Produkte und Firmen könnten boykottiert werden.» Auch in der Parlamentsdebatte warnten mehrere Reden vor der «wirtschaftsfeindlichen» Initiative.

Realitätscheck 2: Die Geschäfte laufen gut

Schweizer Produkte stiessen im arabischen Raum auch nach dem Minarett-Verbot auf Anklang. So stieg zum Beispiel das Exportvolumen nach Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. «Das Minarett-Verbot hat sich überhaupt nicht negativ auf den Aussenhandel mit den arabischen Ländern ausgewirkt», sagt Jean-Paul Vulliéty, Präsident der arabisch-schweizerischen Handelskammer mit Sitz in Genf. Die Geschäfte liefen gut, die Zahlen seien stabil. «Vielleicht», so der Rechtsanwalt, «haben damals die Geschäftsleute aus der arabischen Welt das Verbot gar nicht registriert. Und heute ist es sowieso sehr wahrscheinlich vergessen.» Zudem hätten arabische Wirtschaftsvertreter ein positives Bild der Schweiz. Das Land symbolisiere Qualität, stehe für gute Produkte. Auch bei weichen Faktoren schnitten helvetische Unternehmen gut ab. «Die Vertreter werden als freundlich und respektvoll wahrgenommen und nicht als rassistische Personen, die in ihrer Heimat die Rechte religiöser Minderheiten beschneiden.» Nur einmal, an der ersten Generalversammlung nach der Abstimmung im Frühjahr 2010, erlebte Vulliéty eine heftige Reaktion. Botschafter arabischer Länder hätten ihre Enttäuschung und ihr Unverständnis über den Volksentscheid formuliert. Vulliéty, damals Mitglied der Geschäftsleitung, gelang es aber, den demokratischen Entscheid unaufgeregt zu erklären. Auch der damalige Generalsekretär Elias Attia, ein Mann mit ägyptischen Wurzeln und Kenner von unterschiedlichen Kulturen, erwies sich als geschickter Wogenglätter.

Annahme 3: Die Schweiz verärgert Muslime weltweit und wird Zielscheibe von Terroristen

«Anstatt gegen den radikalen Islam zu bekämpfen, befeuert ihn die Anti-Minarett-Initiative», gab Nationalrat Antonio Hodgers (Grüne, GE) zu bedenken. Ständerat Claude Janiak (SP, BL) erwartete im Falle einer Annahme einen «Propagandakrieg» durch fundamentalistisch-islamistische Kreise: «Damit betrifft die Initiative schliesslich auch unmittelbar die Sicherheitspolitik der Schweiz.» Nationalrätin Kathy Riklin (CVP, ZH) sorgte sich um die Sicherheit von Schweizer Botschaften im Ausland. Und für den damaligen libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi lieferte das Minarett-Verbot der Terrororganisation El Kaida einen Steilpass, um Ziele in Europa anzugreifen. Gaddafi, der zu dieser Zeit zwei Schweizer Geschäftsleute als Geiseln hielt, rief sodann zum Heiligen Krieg gegen die Schweiz auf. Beim Aufstand gegen den Langzeitdiktator wurde Gaddafi 2011 getötet.

Realitätscheck 3: Bescheidene Reaktionen

Gaddafis Dschihad-Fantasien gegen die Schweiz verhallten echolos im Wüstensand. Der Nachrichtendienst des Bundes erwähnte die Minarett-Verbot letztmals in seinem Jahresbericht 2014 mit dem Hinweis, die Schweiz und ihre Interessen seien trotz damaliger Befürchtungen mit keinen terroristischen Ereignissen konfrontiert worden. Unmittelbar nach der Abstimmung wurde jedoch auf mindestens einem dschihadistischen Forum zu direkter Gewalt gegen die Schweiz aufgerufen. Auf islamistischen Seiten fanden sich auf Boykott-Appelle. «Insgesamt blieben die Reaktionen aber bescheiden», hielt der Nachrichtendienst fest. Fazit: Das Minarett-Verbot polarisierte weit weniger als die Mohammed-Karikaturen.

Annahme 4: Die Schweiz gefährdet den religiösen Frieden

Der Bundesrat sorgte sich um den religiösen Frieden, da sich die Muslime durch das Minarett-Verbot diskriminiert fühlen könnten. Grünen-Nationalrat Hodgers mutmasste, ein Ja zur Initiative könnte westlich gesinnte Muslime erniedrigen und in die Arme von Extremisten treiben.

Realitätscheck 4: Islamophobie-Vorwürfe verpufften

Saida Keller-Messahli, Präsidenten des Forums für einen fortschrittlichen Islam, bereist häufig arabische Länder. Sie lehnte die Minarett-Initiative ab. Zehn Jahre danach sieht sie keine Auswirkungen wegen deren Annahme – weder in der Schweiz noch im Ausland. Zwar habe zum Beispiel Nicolas Blancho, der Präsident des Islamischen Zentralrats der Schweiz, versucht, die Schweiz bei Auftritten in arabischen TV-Sendern als islamfeindlich anzuschwärzen. «Er kultiviert den Opferdiskurs, um die Muslime anzustacheln», sagt sie. Blanchos Strategie, die zum Werkzeugkasten der Islamisten auf der ganzen Welt gehöre, sei sowohl in der Schweiz als auch im Ausland wirkungslos verpufft. Allerdings, ergänzt Keller-Messahli, habe das Minarett-Verbot auch nichts gegen islamistische Tendenzen gebracht.

Auch Befürworter irrten

Übrigens: Kolossale Fehlprognosen sind keine Exklusivität der Initiativ-Gegner. Ulrich Schlüer, einer der Wortführer des Minarett-Verbots, rechnete im Jahr 2004 als Co-Präsident des «Komitees gegen Masseneinbürgerungen» vor, bis 2020 steige der Anteil der Muslime an der Bevölkerung in der Schweiz auf 18 Prozent. Derzeit sind es: 5,4 Prozent