Zur Gründung des stabilsten Staates Europas: «Es gäbe Anlass, eine Rakete zu zünden»

 

Doch die 23 Kantonsvertreter in der Bundesrevisionskommission hatten unterschiedlichste Vorstellungen, wie der künftige Staat aussehen sollte. Was tun in solcher Lage?

Alle kleinen Kantone – egal ob protestantisch oder katholisch – wollten anfangs unter keinen Umständen eine andere Staatsform als das bestehende Tagsatzungssystem. Das heisst: Auch in Zukunft sollte jeder Kanton einfach eine Stimme haben, unabhängig von der Einwohnerzahl. Uri mit 14000 Einwohnern sollte das gleiche Gewicht haben wie Bern, damals der grösste Kanton mit 450000 Einwohnern. Also stellte sich die Frage: Wie lässt sich diese Forderung mit einem demokratischen Ansatz verknüpfen? Die Antwort darauf war das Zweikammersystem, ein geniales Konzept.

Wieso?

Weil es das staatstheoretisch einzig denkbare universale Modell für freiwillige, also unerzwungene Zusammenschlüsse demokratischer Einzelstaaten ist. Kleine und grosse Kantone schliessen sich freiwillig zusammen. Als Grundlage dieses Vertrages dient die Gleichberechtigung aller Staaten, daraus geht der Ständerat hervor. Und dann, als zweites Prinzip, die Repräsentation aller Einzelnen. Daraus geht der Nationalrat hervor. Diese Kombination ermöglichte den Durchbruch. Der Ständerat diente als Schild gegen all jene, die einen Einheitsstaat wollten. In diesem Fall wäre für die kleinen Kantone nichts mehr übrig geblieben.

Bereits am zweiten Sitzungstag der Revisionskommission wurde das Zweikammer-Projekt fast beerdigt. Der Waadtländer Ultraradikale Henri Druey beantragte einen zentralistischen Nationalstaat – und verärgerte die Mehrheit der Vertreter. Wie fand die Kommission doch noch eine Lösung?

Möglich machten das die Vertreter der Sonderbundskantone. Sie alle befanden sich in einer höchst labilen Situation: Nach dem Sonderbundskrieg mussten die unterlegenen katholischen Regierungen der Sonderbundskantone abtreten. Für kurze Zeit, nur etwa ein halbes Jahr, kamen die liberalen Katholiken an die Macht. Sie hatten zwar keine reale Mehrheit, konnten sich aber an der Macht halten, solange die Siegertruppen noch in den Kantonen präsent waren.

Was war ihre Rolle?

Die kleinen Kantone waren anfänglich der Meinung, dass sich an der Repräsentation nichts ändern sollte. Unterstützung erhielten sie auch von grösseren Kantonen, etwa Zürich. Ebenfalls in den ersten Tagen entstanden wichtige Eckpfeiler der Verfassung: Aussenpolitik beim Bund, Berechtigung des Bundes für Infrastrukturbauten, ein Bekenntnis zur Bildung, dazu Münzhoheit und Abschaffung der Binnenzölle, kurz ein gemeinschaftlicher Wirtschaftsraum und politische Einheit. Diese Fortschritte wurden hart errungen. Manche fürchteten, die umstrittene Frage der Staatskonstruktion würde diese bisherige Arbeit zerstören.

Die Einsicht, dass ein Systemwechsel notwendig war, reifte erst später?

Ja, aber sie ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Das Zweikammersystem war in der Schweiz nicht gänzlich unbekannt. Der Philosoph, Staatstheoretiker und Berner Professor Ignaz Paul Vital Troxler hat sich seit den 1830er-Jahren damit befasst, und nun, im Hinblick auf die Berner Staatsverhandlungen, eine Broschüre mit dem Titel «Die Vereinigten Staaten als Musterbild der Schweizerischen Bundesreform» herausgegeben. Und dann war da vor allem noch Ulrich Ochsenbein. Von ihm wusste man, dass er seit mindestens drei Jahren das Zweikammersystem nach amerikanischem Zuschnitt – zwei gleichwertige Kammern – favorisierte. Da Ochsenbein Präsident der Revisionskommission war, spielte das natürliche eine Rolle, aber da gab es noch mehr. Der energische, weitsichtige, auch diplomatische Ulrich Ochsenbein war in der Zeit der Verfassungsverhandlungen auch Berner Regierungspräsident und als solcher systemgemäss auch noch Bundespräsident – das war einer der nicht wenigen fruchtbaren Zufälle, die hier spielten. Dass ein anderer Bundespräsident Ähnliches zustande gebracht hätte, ist durchaus fraglich.

Portrait des Präsidenten der Verfassungsrevisionskommission Ulrich Ochsenbein (1811-1890). Ochsenbein war nach der Gründung des Bundesstaats von 1848 bis 1854 im Bundesrat. Bild: Str / PHOTOPRESS-ARCHIV
Portrait des Präsidenten der Verfassungsrevisionskommission Ulrich Ochsenbein (1811-1890). Ochsenbein war nach der Gründung des Bundesstaats von 1848 bis 1854 im Bundesrat. Bild: Str / PHOTOPRESS-ARCHIV

 

Ochsenbein konnte aber auch sehr brüsk werden, bewusst und kalkuliert, er scheute sich nicht, sich unbeliebt zu machen. Dass er nicht abstürzte dabei, grenzt fast schon an ein Wunder.

Sie denken an den 7. März 1848. Da blockierte sich die Revisionskommission selber. Das Problem war einmal mehr die gleiche Stimmkraft für ungleich grosse Kantone. Es ging also letztlich um die Frage, ob die neue Schweiz ein demokratischer Staat werden sollte und konnte oder nicht. Die Verhandlungen durchliefen ihre kritischste Phase, aber die Öffentlichkeit erfuhr nichts davon. Und auch die Geschichtsschreibung nicht. Ochsenbein setzte eine harte Schocktechnik ein, drohte mit dem Rückzug Berns aus den Verhandlungen und erklärte: «Kommt keine Nationalrepräsentation zustande, so wird Bern in keine Revision einwilligen. Man erkläre es rechtzeitig dem Volke, dass man am Ende sei und nichts mehr tun könne.» Das war ein Ultimatum an die kleinen Kantone, sich zu bewegen oder mit der Verantwortung für das Scheitern beladen zu werden – sie lenkten ein. Die Türe zur modernen demokratischen Republik war damit aufgestossen. Und Ochsenbein war die am meisten gehasste Person der Kommission. Aber nicht für lange.

Und wie kam es zum Meinungsumschwung?

Was sich jetzt abspielte innerhalb der Kommission ist ein Meisterstück der politischen Vertrauensbildung. Keine zehn Tage später sang der Ausserrhoder Konrad Oertli ein Hohelied auf Ochsenbein, der Schwyzer Melchior Diethelm und andere zogen mit. Aus den offiziellen Protokollen lässt sich das nicht rekonstruieren. Doch der Glarner Caspar Jenny dokumentiert in seinen privaten Protokollen, die katholischen Kantone seien plötzlich «ganz verliebt» in das Zweikammersystem. Innerhalb von zwei Wochen haben mehrere Vertreter ihre Meinung komplett geändert.

Und wie hat Ochsenbein die anderen in der Sache überzeugt?

Er präsentierte die Zukunftslösung, die für die meisten stimmte.

Das Unglaubliche an dieser Geschichte: Sie haben sie vor drei Jahren erst entdeckt und geschrieben – nichts hat die Geschichtsschreibung bis dahin von der Bedeutung des 7. März gewusst.

Ja, der 7. März ist einer der wichtigsten Tage in der neueren Schweizer Geschichte. Was ich in den von mir neu entdeckten Protokollen fand, gab mir die Kraft, die 1000 Buchseiten zu schreiben.

Und wie schaffte es das Zweikammersystem zum Durchbruch?

Das ist die Geschichte von Melchior Diethelm, dem Vertreter aus Schwyz. Während die Revisionskommission tagt, wird er in seiner Heimat entmachtet. Also geht er zurück und versucht zu retten, was noch zu retten bleibt. Er scheitert aber, fliegt aus allen Ämtern. Die Reaktionäre haben die Macht im Kanton wieder übernommen. Und Diethelm kehrt als Gezeichneter nach Bern zurück. Das war ein Schockerlebnis für die ganze Kommission. In allen kleinen katholischen Kantonen bestand die Gefahr, dass die Reaktionäre die Macht wieder übernehmen konnten. Diethelms Auftritt am 22. März traf darum viele sehr persönlich. So hätte beispielsweise auch Franz Jauch aus Uri plötzlich seinen Rückhalt verlieren können. Die Zeit drängte. Und die Einsicht, einen gemeinsamen Abschluss finden zu müssen, wuchs.

Was aus den Quellen vor der Quellenedition in der «Stunde Null» nicht hervorgeht: Diethelm plädierte für die Einführung des Zweikammersystems und verhalf ihm zum Durchbruch.

Ja. Er hat im Nachhinein die Geschichte zwar anders erzählt. Aber die geheimen Protokolle der anderen Ratsmitglieder sind eindeutig. Diethelms Rede war ein Weckruf. Er schlug zwei Kammern nach amerikanischem Muster vor, «wo nämlich für die Gültigkeit eines Beschlusses in allen Geschäften die Zustimmung der Mehrheit der National- und der Ständekammer nöthig sey».

Wieso weiss heute niemand, wer Ulrich Ochsenbein oder Melchior Diethelm ist?

Weil die Macht in Bern kurz nach 1848 an die einheitsstaatlichen Ultraradikalen unter dem späteren Bundesrat Jakob Stämpfli ging. Für sie war Ochsenbein der Verhinderer eines wirklich idealen Staats.

In den USA gehören die «Founding Fathers», die Gründer der Union, zum Bildungskanon eines jeden. In der Schweiz kennt man die Gründerväter nicht. Wieso eigentlich?

Das hängt wohl mit der Labilität der Publikumsgunst und der Rolle der konservativen Kantone zusammen. Bis 1891 wurden sie politisch übergangen, hatten zum Beispiel keinen eigenen Bundesrat. Die Bundesverfassung hatte wie gesagt auch Mängel.

Der Fortschritt war die Demokratisierung?

Ja, unter sehr viel anderem – darum könnten wir auch den 7. März feiern und dann eine Rakete steigen lassen, wenn Sie wollen.

Die Bundesverfassung von 1848 schuf Institutionen wie das Ständemehr und den Ständerat. Sie gewährte den kleineren, konservativen Kantonen mehr Mitsprache, was heute gerne kritisiert wird. Bild: Peter Klaunzer / Keystone
Die Bundesverfassung von 1848 schuf Institutionen wie das Ständemehr und den Ständerat. Sie gewährte den kleineren, konservativen Kantonen mehr Mitsprache, was heute gerne kritisiert wird. Bild: Peter Klaunzer / Keystone

 

Die Bundesverfassung steht heute in ständiger Kritik, etwa wenn die Stände das Volksmehr übersteuern. Ist das Ständemehr überholt?

Nein, es wäre falsch, es abzuschaffen. Der Vertrag, auf dem unser Land basiert, besteht aus zwei Prinzipien: Nicht nur das demokratische, auch das föderalistische Prinzip gehört dazu. Und im Übrigen: Die Abschaffung unterstünde ja selber dem Ständemehr – sie könnte also nur durch einen Staatstreich durchgesetzt werden.

 

 

Rolf Holenstein, «Stunde Null» (2018) und «Ochsenbein» (2009), beide erschienen im Echtzeit Verlag.

Rolf Holenstein, liessen Sie am 12. September heimlich eine Rakete ab?

Nein, da bin ich nüchtern. Allerdings gäbe es schon Anlass, eine Rakete zu zünden. Denn es war eine wichtige Operation, die am 12. September 1848 beendet wurde.

Die Gründung des Bundesstaats?

Ja. Die jahrhundertealte, aber damals immer noch bestehende und amtierende Tagsatzung erklärte an diesem 12. September die neue Verfassung von 1848 zum «Grundgesetz der Eidgenossenschaft». Eine hochbedeutende Errungenschaft für die Schweiz – und nicht nur für die Schweiz. Der Gründungsakt von 1848 war nicht zuletzt auch ein europäischer Wurf. Denn der Schweizer Bundesstaat von 1848 war die erste und einzige stabile demokratische Republik in Europa, und das für sehr lange Zeit…

…und gebaut in kürzester Zeit.

Ja. Die vom Berner Ulrich Ochsenbein präsidierte 23-köpfige Bundesrevisionskommission brauchte nur gerade 51 Tage und 31 Sitzungen um einen Verfassungsentwurf von einer solchen Qualität zu erarbeiten, dass er auf der langen Reise durch die Kantonalinstanzen und der Tagsatzung nur wenige Retuschen erfuhr. So ist die Verfassung von 1848 das Werk der Revisionskommission. In ihren Grundzügen besteht sie bis heute. Für die schweizerische Bevölkerung war der multinationale und demokratische Zweikammer-Bundesstaat von grösster Bedeutung. Er schuf die unerlässlichen Voraussetzungen für ihre Existenz, für Frieden, Sicherheit und wachsenden Wohlstand. Perfekt allerdings war er nie, wie die Judendiskriminierung und später das viel zu lange fehlende Frauenstimmrecht lehren.

Die Verfassung galt 1848 manchen als Stümperarbeit.

Ja, das ist eine hochinteressante Sache. Das Zweikammersystem spielte dabei eine grosse Rolle. Der junge Alfred Escher zum Beispiel, 1848 Grossratspräsident im Kanton Zürich, schwärmte im revolutionären europäischen Völkerfrühling, Februar/März 1848, von einer «Wiedergeburt Europas» und vom kommenden demokratischen deutschen «Bundesstaat». Die Schweiz dagegen warnte er vor dem Fehltritt, «in diesen grossen Tagen dem uns überflügelnden Europa das traurige Bild des engherzigen Spiessers darzustellen» und bei der Bundesrevision «elendes Flickwerk» anstelle eines «Einheitsstaates» zu akzeptieren. Viele dachten ähnlich. Und irrten ähnlich. Ein knappes Halbjahr später nur war der Völkerfrühling zu Ende, die Reaktion siegte, die Fürsten sassen wieder auf ihren Thronen, überall. Und Escher änderte seine Meinung.

Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12.09.1848 lagert heute im Bundesarchiv in Bern. Im Wesentlichen hat sie bis heute Bestand. Bild: Peter Klaunzer / Keystone
Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12.09.1848 lagert heute im Bundesarchiv in Bern. Im Wesentlichen hat sie bis heute Bestand. Bild: Peter Klaunzer / Keystone

 

Sie zeichnen in Ihrem Buch «Stunde Null» nach, wie sich im Februar 1848, gut zwei Monate nach dem alles spaltenden Sonderbundskrieg, die Mehrheit der Kantone zusammenraufen und in nur 51 Tagen den Grundstein für den stabilsten Staat Europas legen. Wie war das möglich?

Es ging immer zugleich und immer mit Tempo um die Staatsform der neuen Schweiz und die Positionierung des Landes in Europa. Europa brodelt zu jener Zeit, eine Monarchie stürzt nach der anderen in sich zusammen: 1848 weiss niemand, wie lange die Eidgenossenschaft unbehelligt bleibt, ob sie angegriffen wird oder ob sich in der Schweiz die Ultraradikalen durchsetzen, die einen Einheitsstaat mit Auflösung der Kantone fordern. Genf, Waadt und oppositionelle Kräfte in Zürich, St. Gallen und vor allem Bern wollen sich überdies mit den revolutionären Kräften Europas zusammenschliessen, um zu verhindern, dass die alten Monarchen wieder an die Macht kommen. Zu diesem Zweck sollten eidgenössische Bataillone Unterstützung leisten und die liberalen Revolutionen sichern – aus Angst, dass bei einer Gegenrevolution die Eidgenossenschaft ebenfalls fallen würde. Die Revisionskommission stand unter Zeitdruck. Sie wusste: Es musste vorwärts gehen.

Die letzte Tagsatzung am 29. Oktober 1847 vor dem Sonderbundskrieg. Anwesend waren auch Mitglieder der späteren Verfassungsrevisionskommission. Darunter Jonas Furrer (ZH), Regierungspräsident Ulrich Ochsenbein (BE), Friedrich Frey-Herosé (AG), Henri Druey (VD) und Johann Konrad Kern (TG). Holzschnitt von E. Kretzschmar / PHOTOPRESS-ARCHIV
Die letzte Tagsatzung am 29. Oktober 1847 vor dem Sonderbundskrieg. Anwesend waren auch Mitglieder der späteren Verfassungsrevisionskommission. Darunter Jonas Furrer (ZH), Regierungspräsident Ulrich Ochsenbein (BE), Friedrich Frey-Herosé (AG), Henri Druey (VD) und Johann Konrad Kern (TG). Holzschnitt von E. Kretzschmar / PHOTOPRESS-ARCHIV