Zwischen Genie und Wahnsinn: Eine Annäherung an Aarau-Trainer Stephan Keller

Was ist denn das für Einer? So ungefähr muss denken, wer Stephan Keller nach dem Cuphalbfinal zwischen Aarau und Luzern erstmals wahrgenommen hat. Der SRF-Reporter lobt im Interview den heroischen Auftritt des Unterklassigen. Doch statt den Steilpass aufzunehmen, will der Aarau-Trainer etwas anderes loswerden: «Es ist traurig, wenn am Schluss auf Zeit gespielt. Klar, es ist wichtig, auch für einen kleinen FC Luzern – logisch. Aber das entspricht nicht meinem Stil und ist schade für die Entwicklung des Fussballs in der Schweiz. Gerade in der Super League sollte attraktiver Fussball gespielt werden.»

Kritik am Verhalten des Gegners, Sarkasmus, Generalangriff auf die Super League – in Kellers 50-sekündigem Monolog steckt viel Zündstoff. Mit der Vorgeschichte vier Tage vor dem Luzern-Spiel wirken seine Worte noch fragwürdiger: Unmittelbar nach dem 2:1-Sieg gegen GC stellt er einen Balljungen zur Rede und erklärt danach: «Wir haben die Ballkids instruiert, dem Gegner den Ball nicht sofort zuzuwerfen, sondern sich dafür die nötige Zeit zu lassen.» Von den eigenen Ballkids fordert Keller Zeitspiel zugunsten des FCA – doch als am Dienstag die Luzerner die üblichen Tricks zur Sekundengewinnung anwenden, ist das in Kellers Augen traurig.

Die abenteuerlichen Ansichten führen dazu: Von der breiten Öffentlichkeit ist er abgestempelt als schlechter Verlierer, mit Hang zum Grössenwahn. Trifft das wirklich zu? Auch enge Begleiter des FC Aarau irritieren die beiden Episoden. Doch Keller deswegen einen schlechten Charakter zu attestieren, wäre falsch.

Schon als Spieler schwamm er gegen den Strom
Schon als Spieler schwamm der Zürcher gegen den Strom, fühlte sich im oberflächlichen Fussball zunehmend missverstanden und flüchtete ins Ausland. Auch dort war sein Weg atypisch: Erfurt, das Anfang der Nullerjahre noch schwer gezeichnet war von der DDR-Vergangenheit, danach weiter nach Holland, Australien und wieder Holland, wo die Familie bis heute ihren Lebensmittelpunkt hat und sich Keller als Trainer ausbilden liess.

Ricardo Cabanas, in den Jugendjahren bei GC und in den Schweizer Junioren-Nationalmannschaften Weggefährte von Keller und bis heute ein enger Freund, sagt: «Leider gilt im Fussballbusiness bereits als Querdenker, wer sich nicht mit dem ‹Blick› verbrüdert oder sich pointiert und kritisch äussert. Stephs schlechter Ruf war an den Haaren herbeigezogen. Mit ihm kann man tiefsinnige Gespräche führen.»

Stimmt: Familie, Politik, Corona, soziale Medien, Entwicklung des Journalismus – Keller ist in vielen Themen ein interessanter Gesprächspartner, der sehr wohl auch eine sanfte Seite hat. Nach dem ersten Saisonspiel gegen den FC Wil überreichte er seinem früheren Mitspieler Alex Frei zu dessen Einstand als Profitrainer eine Flasche Gin – Keller ist Liebhaber des Wacholderschnaps und betreibt nebenbei einen Getränkeimport für seltene Spirituosen.

Mit seiner Mannschaft unternahm er zwei Tage vor dem Cup-Halbfinal gegen Luzern eine Velotour durch die mit Fahnen und Bannern geschmückte Stadt Aarau, um die Sinne der Spieler für die Bedeutung der Affiche zu schärfen. Am Tag nach der Balljungen-Affäre besuchte er den Knaben und dessen Familie. Und nach dem Cup-Out gegen Luzern bedankte sich Keller auf Instagram für die Unterstützung

Ob Neuling oder Routinier: alle sind gleich
Keller ist getrieben vom Fortschritt: Er tut alles für den Erfolg, ist hundertprozentig davon überzeugt, das Richtige zu tun und lässt sich in seinem Handeln von niemandem dreinreden. Dass er dabei auf einem schmalen Grat wandert und immer mal wieder Leute vor den Kopf stösst – klar: Genie und Wahnsinn liegen bekanntlich nahe beieinander. Die Spieler in Aarau schwärmen von den anspruchsvollen und lehrreichen Trainings, sie lieben ihn dafür, dass er konsequent auf Offensivfussball setzt und vom Profineuling bis zum Routinier alle gleich behandelt. Eine seiner ersten Amtshandlungen war, dem genialen Fussballer, aber nicht als Teamplayer bekannten Markus Neumayr klarzumachen, dass es zwischen den beiden keine Zusammenarbeit gebe.

All das spricht sich rum: Es heisst, als im vergangenen Winter Bastien Conus und Mickael Almeida auch von anderen Klubs, teilweise aus der Super League, umworben waren, gab es für sie nur eine Wahl: Aarau – wegen Keller.

Nach Jahren des Stillstands brauchte es einen Trainer, der aufrüttelt
In Aarau wussten Sportchef Sandro Burki und Präsident Philipp Bonorand, auf was sie sich mit der Beförderung des vorherigen Assistenten von Patrick Rahmen zum wichtigsten Angestellten, zum Cheftrainer, einliessen: Auf eine ungemein fleissige, kreative und inspirierende, aber stets unberechenbare Person. Aber sie wussten auch: Nach Jahren des Stillstands braucht es einen Trainer, der aufrüttelt.

Genau das ist eingetroffen: Innert kurzer Zeit hat Keller der Mannschaft einen Stil vermittelt, für den der FC Aarau von allen Seiten Lob erhält. Er hat aus Namenlosen und Gestrandeten wie Leon Bergsma, Liridon Balaj, Donat Rrudhani und Kevin Spadanuda hochattraktive Transferziele für grossere Klubs geformt. Keller geniesst in Aarau alle Freiheiten, im Gegenzug akzeptiert er die rudimentären Arbeitsbedingungen im Brügglifeld.

Eine Person aus dem inneren FCA-Zirkel hat einst treffend gesagt: «Keller ist ein komischer Kauz – aber er ist genauso ein genialer Trainer.»