
Führungskrise bei der Staatsanwaltschaft: Simon Burger darf heute nur unter Aufsicht in sein Büro zurückkehren
Im Juni 2020 machte die AZ publik, dass eine Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm ihrem Chef Simon Burger schlechte Amtsführung vorwirft. Sogar bei der Polizei und den Gerichten sei er «verhasst», hiess es in der Beschwerde an die Oberstaatsanwaltschaft. Burger sei ein Machtmensch, mische sich in Verfahren von Kolleginnen ein und dränge sie, höhere Strafanträge zu stellen – ausserdem verbreite er eine Angstkultur.
Der Regierungsrat liess diese Vorwürfe extern untersuchen: Durch den früheren Zürcher Staatsanwalt Ulrich Weder und das auf Organisationsberatung spezialisierte Institut iafob. Mitte Dezember teilte die Regierung mit, dass gegen Burger ein Disziplinarverfahren eingeleitet werde. Dies allerdings nicht wegen der Vorwürfe der Mitarbeiter, sondern wegen seines Umgangs mit der Kantonspolizei.
Der Leitende Staatsanwalt solle herablassende Ausdrücke über die Polizei und ihre Arbeit gebraucht haben. Auf die ursprünglichen Vorwürfe von Burgers Mitarbeitern ging der Regierungsrat in der Mitteilung nicht ein. Daraus liess sich schliessen: Disziplinarisch oder juristisch blieb mit Blick auf die Amtsführung nichts hängen, das Burgers Stuhl hätte ins Wanken bringen können. Der kritisierte Staatsanwalt sagte damals: «Ich bin froh, dass die Administrativuntersuchung abgeschlossen ist und sich die teils ausserordentlich schweren Vorwürfe weitgehend nicht erhärtet haben.»
Alles nur ein Sturm im Wasserglas oder Kritik von ein paar unzufriedenen Mitarbeiterinnen an ihrem strengen Chef also? Keineswegs, wie die bisher geheime «Analyse der Arbeits- und Führungssituation der Bezirksstaatsanwaltschaft Zofingen-Kulm» zeigt. Den Bericht hatte die Regierung im Dezember nicht veröffentlicht, der AZ liegen jedoch Auszüge daraus vor.
1,6 von 5: Mitarbeiter geben ihrem Chef sehr schlechte Noten
Das Institut iafob führte bei sämtlichen 23 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm eine Befragung durch, bei der Noten von 1 bis 5 verteilt werden können. In der Kategorie «Führung und Führungsstil durch den Leitenden Staatsanwalt» – also Simon Burger – resultiert eine Note von 1,6.
Elf Personen bewerteten Burgers Führung mit einem doppelten Minus, sechs mit einem einfachen Minus, drei mit einem neutralen +/– und drei mit einem Fragezeichen. Die Beurteilung durch die Mitarbeiter fiel für Burger also miserabel aus.
Zum Vergleich: Im Jahr 2014 hatte dasselbe Institut wegen Vorwürfen gegen die Leitende Staatsanwältin Barbara Loppacher nach der sogenannten Büsi-Affäre die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau untersucht. Damals kamen die Experten zum Schluss, dass keine Führungskrise besteht.
«Die grosse Mehrheit der Mitarbeitenden bejaht die Frage, ob die Leiterin die richtige Führung darstellt», hiess es im Bericht aus dem Jahr 2014. Die Befragten konnten – wie im aktuellen Fall – Noten zwischen 1 und 5 vergeben. Loppacher erhielt im Schnitt eine 4,3, wurde also massiv besser bewertet als Burger jetzt. Mitverfasser beider Berichte – jenem von 2014 in Lenzburg und jenem von 2020 in Zofingen – ist der Psychologe Thomas Strohm. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Befragungen und die Methodik vergleichbar sind.
«Falsche Person für die Leitung der Staatsanwaltschaft»
Das Fazit der Experten aus der Befragung im Fall Burger fällt klar aus: Eine deutliche Mehrheit der Mitarbeitenden beurteile Burger «als die falsche Person für die Leitung der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm». Im Bericht ist von einer ausgeprägten Führungskrise die Rede, wobei die Verfasser festhalten, dass Burger einige
«Unzulänglichkeiten in der Führungsarbeit aufweist und Führungsfehler begangen hat».
Negativ beurteilen sie insbesondere seine Kommunikation – wie sich Burger gegenüber Einzelpersonen, der Oberstaatsanwaltschaft und insbesondere der Kantonspolizei äussere, sei ein «nicht akzeptabler Kritikpunkt am Führungs- und Verhaltensrepertoire des leitenden Staatsanwalts».
Noch während die Untersuchung lief, ersuchten alle 23 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Regierungsrat, dass Simon Burger nicht mehr im Büro arbeiten solle. Eine tägliche Konfrontation sei ihnen aus gesundheitlichen Gründen nicht zuzumuten, argumentierten sie. «Dem wird vom Regierungsrat Rechnung getragen», heisst es im Bericht – Burger wurde also ab Juli 2020 ins Homeoffice versetzt.
Burger lehnte Versetzung oder Abgangsentschädigung ab
Das Institut befasste sich auch mit möglichen Lösungen der verfahrenen Situation und prüfte mehrere Möglichkeiten. Eine erste Variante – die einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses – lehnte Simon Burger laut Bericht ab. Gemäss Informationen der AZ soll der Regierungsrat ihm dabei eine grosszügige Abgangsentschädigung angeboten haben. Auch darauf wollte der Staatsanwalt offenbar nicht eingehen.
Als zweite Lösung stand die Versetzung Burgers auf einen Posten bei der Oberstaatsanwaltschaft oder eine «stufengerechte Position in der Kantonsverwaltung» im Raum. Für die Experten des Instituts stellte dies «eine prioritäre Option dar» – doch der Leitende Staatsanwalt lehnte nach AZ-Informationen auch eine Versetzung ab.
Der Regierungsrat äussert sich auf Anfrage inhaltlich nicht zu diesen Vorgängen rund um Simon Burger. Der Bericht des Instituts iafob sei «aus rechtlichen Gründen, insbesondere auch wegen des Persönlichkeitsschutzes der Beteiligten, vertraulich», begründet Regierungssprecher Peter Buri. Die Regierung werde deshalb «keine über die Informationen von Mitte Dezember hinausgehenden Stellungnahmen abgeben».
Auch Staatsanwalt Simon Burger hält auf Anfrage lediglich fest:
«Der Regierungsrat hat mit allen Beteiligten Stillschweigen vereinbart, daran halte ich mich.»
Die erneute Indiskretion sei bedauerlich und nicht zielführend. «Mehr gibt es nicht zu sagen», schliesst Burger sein kurzes Statement.
Aufsicht durch Führungscoach und Oberstaatsanwalt
Fest steht: Heute Montag kehrt Simon Burger als Leitender Staatsanwalt nach Zofingen zurück. Dies allerdings unter sehr schwierigen Umständen, wollten doch seine Mitarbeiter die Rückkehr ins Büro verhindern. Sie engagierten Anfang dieses Jahres einen Anwalt, der seither ihre Interessen vertritt.
Dieser erreichte laut AZ-Informationen, dass Burger nicht wie geplant im Januar, sondern erst heute Montag in sein Büro zurückkehrt. Dabei werde er durch einen Führungscoach und einen Oberstaatsanwalt begleitet. Zudem stehe er weiter unter Beobachtung und im Sommer erfolge eine erneute Standortbestimmung, heisst es aus Justizkreisen.
Regierungssprecher Buri sagt dazu, der vom Regierungsrat initiierte Prozess zur Organisations- und Führungsentwicklung sei Anfang 2021 gestartet worden und laufe noch. Dabei seien «mit allen Beteiligten Begleitmassnahmen für die Wiederaufnahme der Arbeit vor Ort durch den Leitenden Staatsanwalt und für die Zusammenarbeit im Team der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm» festgelegt worden.
Ein Vertreter der Oberstaatsanwaltschaft ist laut Buri «in den nächsten Wochen punktuell vor Ort und wird dem ganzen Team zur Verfügung stehen». Weiter sagt der Regierungssprecher:
«Das Führungscoaching wurde im Rahmen der Organisations- und Führungsentwicklung gemeinsam beschlossen und entspricht auch einem Wunsch des Leitenden Staatsanwalts.»
Simon Burger hatte im Dezember gesagt, er begrüsse es, dass der Regierungsrat «meinen Antrag auf Führungsunterstützung gutgeheissen hat».
Fast die Hälfte des juristischen Personals in Zofingen ist weg
Wie problematisch die Situation tatsächlich ist, zeigt die Personalsituation bei der Staatsanwaltschaft Zofingen- Kulm. Einen beträchtlichen Teil seines juristischen Teams wird Burger nicht mehr antreffen, wenn er heute zurückkehrt. Laut AZ-Informationen haben bisher sechs Assistenzstaatsanwälte und Staatsanwälte in Zofingen gekündigt oder um einen Wechsel innerhalb der kantonalen Verwaltung ersucht.
Damit ist fast die Hälfte der juristischen Belegschaft weg, die bei der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm insgesamt 13 Personen umfasst. Regierungssprecher Buri sagt, seit Anfang 2020 habe es bei der Staats- anwaltschaft Zofingen-Kulm fünf personelle Wechsel gegeben. Vier davon betrafen Staatsanwälte, zudem war der Abgang eines Assistenz-Staatsanwalts zu verzeichnen.
Die vakanten Stellen konnten laut Buri bereits besetzt werden, oder man habe die Nachfolgeregelung an die Hand genommen. Die Abgänge seien zudem nicht nur auf die Arbeits- und Führungssituation zurückzuführen. Bei den Kündigungen und internen Stellenwechseln habe «insbesondere auch die persönliche berufliche Weiterentwicklung» eine Rolle gespielt, sagt der Regierungssprecher.